100 Tage Sex
Nylons.«
»Wie Lippenstift oder Ohrringe. Pumps«, sagte Annie.
»Wie stramme Muskeln«, ergänzte ich. »Wir könnten eine ellenlange Liste von Dingen aufstellen, die wir tun, um attraktiver zu wirken, und die alle nicht ›natürlich‹ sind. Aus diesem Blickwinkel unterscheidet sich ein nackter Schamhügel nicht grundsätzlich von getuschten Wimpern«, sagte ich.
Annie lachte. »Toll hingekriegt!«, lobte sie. »Eine wunderbare Rechtfertigung für das Waxing.«
»Allerdings muss ich zugeben, das Ergebnis ist cooler als bei getuschten Wimpern.«
Weniger cool war am nächsten Morgen die Erkenntnis, dass heute Runde Nummer 40 fällig war, was genau meinem Alter entsprach. Davor lag aber noch ein langer Arbeitstag im Büro. Nach dem Heimkommen ging ich zum Yoga. Dort war ich der Einzige, weshalb die Trainerin vorschlug, wir sollten Partnerübungen machen. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte, nickte aber zustimmend, wie ein Segelnovize, wenn ihm der salzbärtige Käpt’n zuruft: »Fier auf die Schoten auf halben Wind!«
Bald erfuhr ich, dass Partneryoga bedeutete, dem anderen den Rücken zu massieren und später einen einigermaßen komplizierten Handstand zu machen, bei dem sich die Körper verschränkten. In meiner kurzen Yogakarriere hatte ich mich nie mit jemandem verflochten, von Handständen ganz zu schweigen. Lassen Sie sich von der Handstandgeschichte allerdings nicht zu sehr beeindrucken: Bei der Stellung lehnten die Trainerin und ich uns aneinander, so dass ich mich aufrecht halten konnte und nicht schon nach zwei Sekunden wieder auf den Boden krachte. Als sich unsere schweißglänzenden Oberschenkel, Oberkörper
und Arme berührten, fiel mir auf, dass noch etwas Weiteres in diese Fitnessübung gekrochen war. Wir beide trugen nicht viel Kleidung, Kerzenlicht färbte den Raum, wir berührten uns ausgiebig, und ich war es absolut nicht gewohnt, andere Frauen länger zu berühren.
Brav berichtete ich Annie von meinem Yoga-Abenteuer. »Keine Sorge, ich bin nicht, du weißt schon, scharf geworden oder so.«
»Das habe ich auch gar nicht gedacht«, sagte Annie. »Ihr habt euch nur berührt.«
»Genau. Natürlich war das nicht nur ein Klaps auf die Schultern, aber ja, wir haben uns nur berührt.«
»Hast du was gespürt?«
»Sexuell? Nö. Aber ich muss zugeben, jetzt freue ich mich sehr auf Sex. Vielleicht hat mich der ausgiebige Körperkontakt daran erinnert, was heute Abend noch auf mich wartet.«
Wir waren in unserer Beziehung schon vor Jahren dazu übergegangen, uns regelmäßig - nicht sexuell - zu berühren. Das war fast zu einem Ritual geworden, wie das Aufsagen des Rosenkranzes. Wir berührten uns, um uns daran zu erinnern, dass wir ein Paar waren, Teile einer Einheit, nicht zwei getrennte Wesen, die auf unterschiedlichen Flugbahnen durchs Leben zogen. Oft vergingen Tage, an denen wir uns dessen nicht bewusst wurden und unsere Partnerschaft als selbstverständlich nahmen. Und dann ging einer auf den anderen zu und umarmte ihn. Eine solche Bekräftigung unserer Bindung tat uns beiden gut. Nun, die letzten sechs Wochen hatte es an bewussten Berührungen nicht gemangelt. Aber auch über den Kontakt im Bett hinaus waren uns Zärtlichkeiten und Händchenhalten
wieder selbstverständlicher geworden. Wir brauchten keinen besonderen Anlass mehr, es passierte von selbst.
Bei den Kindern vergaßen wir den Körperkontakt nie, es drängte uns ständig danach, sie in den Arm zu nehmen, ihre Wangen zu küssen und beim Gehen die Hand zu halten. Sie schlüpften auch oft zu uns ins Bett, nicht nur nach Alpträumen, sondern einfach, um den Kopf auf einen Bauch zu legen, in den Arm genommen zu werden oder um sich vom Geräusch unseres Atems einlullen zu lassen.
Während ich beim Yoga war, wurde Joni urplötzlich ziemlich krank. Als ich wieder heimkam, hatte sie bereits hohes Fieber und erbrach sich beinahe alle zwanzig Minuten. Um elf Uhr nachts spuckte sie gelbe Gallenflüssigkeit. Sie war weiß wie ein Gespenst. Nachdem wir ihr Medizin eingeflößt hatten, driftete sie langsam in den Schlaf.
Erschöpft schlichen wir in unsere Liebeshöhle, zu flackernden Kerzen, wabernden Düften und tropischer Wärme. Dort versuchten wir uns zu entspannen, trotz Jonis Krankheit. Schweigend saßen wir nebeneinander und lasen. Wir erzählten uns keine Anekdoten des Tages, redeten nicht über die politischen Neuigkeiten, sahen nicht fern, hörten keine Musik. Es gab nur das Geräusch des Umblätterns. Irgendwann sah ich
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