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1001 Nachtschichten

1001 Nachtschichten

Titel: 1001 Nachtschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Osman Engin
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müssen in eine schrecklich reiche Gegend gezogen sein, schau, welch wertvolle Geschenke unser Nachbar uns gebracht hat!‹
    Die Großherzigkeit unseres neuen Nachbarn berührte meine Frau zutiefst, und sie lief unter dem Vorwand, Tee zu kochen, schnell in die Küche, um ihre Tränen nicht zu zeigen.
    Bevor wir nach Deutschland kamen, hatten wir in der Türkei von anderen Gastarbeitern natürlich erfahren, dass die Deutschen ihre türkischen Nachbarn sehr lieben und ihnen gegenüber mehr als großzügig sind. Dass einige sogar am Hauptbahnhof mit Blumen und Mopeds empfangen werden. Aber die schönen Geschenke, mit denen wir überschüttet wurden, übertrafen selbst unsere höchsten Erwartungen.
    Unser lieber neuer Nachbar strahlte mich freundlich an und fragte:
    ›Du alles haben wollen, Kollega?‹
    Welch eine blöde Frage!
    Natürlich wollten wir alles haben – und wie!
    Willkommensgeschenke von Nachbarn sollte man niemals zurückweisen, diese Schande wäre unverzeihlich!
    Deshalb strahlte ich wie ein gebratener Hammelkopf zurück – denn das Honigkuchenpferd kannte ich damals noch nicht – und rief entzückt:
    ›Ich wollen haben, Nachbar, ich danken vielmals von ganzem Herzen! Möge Allah alles, was du anfasst, in Gold verwandeln! Mögen deine Hände, die diese wertvollen Geschenke zu uns getragen haben, niemals leiden! Möge Allah dich von deinen Lieben nie trennen! Möge Allahfür dich den besten Platz im Paradies ständig reserviert halten …‹«
    »Osman, jetzt hör endlich mit diesen Schleimereien auf und komm zur Sache!«
    »Lieber Herr Viehtreiber, möge Allah Ihnen auch ein langes Leben bescheren. Genau diesen Satz hat meine Frau nämlich damals auch gesagt. Aber auf Türkisch natürlich:
    ›Osman, jetzt hör endlich mit diesen Schleimereien auf und komm zur Sache!‹
    Herr Viehtreiber, unser neuer Nachbar war sehr gewissenhaft, ein typischer Deutscher eben. Er hatte an alles gedacht. Selbst die Garantiekarten und die Gebrauchsanweisungen der Geräte hatte er nicht vergessen.
    Ich hatte bis dahin noch nie erlebt, dass meine Frau so schnell Köfte und Börek gezaubert hat. Und in diesen Mengen! Lassen Sie sich die Köstlichkeiten auch weiterhin schmecken, Herr Viehtreiber.
    Offenbar mochte unser neuer deutscher Nachbar türkisches Essen sehr gerne. Er aß solche Mengen, als wäre er gerade einer Hungerkatastrophe entkommen.
    Kaum war sein Teller leer, sorgte meine Frau für Nachschub, kaum war sein Teller voll, aß er wieder alles auf. So ging das Spiel munter weiter … Selbst ich war fast am Platzen, aber unser Nachbar machte keinerlei Anstalten, irgendwann satt zu werden.
    Vielleicht war das ja seine Art, uns seine große Liebe zu zeigen, dachten wir uns.
    Nach dem Essen wollten wir einen türkischen Videofilm anschauen. Aber weil das Essen nicht aufhören wollte,sahen wir uns den Film während des Essens an. Unser lieber Nachbar war sehr gefühlvoll, er hat mit meiner Frau zusammen wie ein Schlosshund geweint, obwohl er von dem Film kein einziges Wort verstanden hat.
    Am späten Nachmittag haben wir ihn dann mit der ganzen Familie verabschiedet. Mein Sohn Recep lief ihm hinterher, um zu sehen, in welcher Wohnung er wohnt. Er ging eine Etage nach oben.
    Wir haben sofort all unsern Bekannten und Verwandten erzählt, wie lieb uns die Deutschen doch hätten. Mein Onkel Ömer aus der Türkei fragte mich am Telefon, wieso ich mich denn darüber so freuen würde.
    ›Osman, du hast mir doch selber erzählt‹, sagte er, ›dass die Deutschen dem millionsten Ausländer zur Begrüßung sogar ein Moped geschenkt haben. Und du flippst aus wegen eines Schnellkochtopfs, eines Heizlüfters und einer Stereoanlage? Das ist doch das Mindeste! Schließlich haben dich die Deutschen doch selbst eingeladen!‹
    In dem Moment wurde mir klar, dass man den Verwandten in der Heimat nicht alles erzählen soll.
    Lieber Herr Viehtreiber, bei solch wertvollen Willkommensgeschenken ließen wir uns natürlich nicht lumpen, obwohl Onkel Ömer meinte, dass das ja selbstverständlich war. Trotzdem kauften wir einen großen Teppich und einen verchromten Samowar als Geschenke. Wer einem einen Truthahn anbietet, dem verweigert man nicht das Huhn, sagt ein türkisches Sprichwort.
    Gleich am nächsten Tag machten wir unseren Gegenbesuch bei dem netten Nachbarn oben in der dritten Etage. Seine Frau öffnete uns die Tür, und ich betrat mitmeiner Familie die Wohnung. Ihr Mann schaute fern und war auch nicht übermäßig erfreut, als er

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