1006 - Das Palladium
schrie ich in Gedanken. »Es ist anders, alles ist anders, Hector. Ich habe…«
Er hörte nicht.
Er hob den Deckel der Bundeslade tatsächlich an!
***
Was ich nun erlebte, ist kaum zu beschreiben oder in Worte zu kleiden. Das Knirschen war mir nicht einmal aufgefallen. Ich hockte am Boden und starrte fassungslos auf die Gestalt des silbernen Skeletts, die mich retten und sich opfern wollte.
Ja, es kam einer Opferung gleich, denn das nur Anheben des Deckels warder größte Frevel, den man begehen konnte.
Die Lade wehrte sich.
Wäre Hector ein Mensch gewesen, er hätte sicherlich laut geschrien, aber er tat nichts. Ich höre ihn auch nicht in meiner gedanklichen Welt schreien, nur war aus diesem dünnen Spalt so etwas wie der unsichtbare Tod gekrochen.
Keine Blitze, kein Licht, keine Funken, die Hector de Valois eingehüllt hätten. Ihm stand ein anderes Schicksal bevor. Er war in einen anderen Energiebereich der Lade hineingetreten, der für meine Augen nicht sichtbar war.
Aber das silberne Skelett spürte ihn. Die rechte Klaue lag auf dem Deckel der Lade wie festgeklemmt. Und von dieser Stelle aus floß der Strom durch seinen Körper.
Hector de Valois starb.
Er starb für mich.
Er hatte mich nicht mehr anders warnen können, und er hatte auch nichts von meiner Umkehr gewußt.
Das silberne Skelett weichte auf. Ich wußte, daß ich nichts mehr für ihn tun konnte. So hockte ich auf dem Boden und schämte mich.
Ich weinte, fühlte mich wie ein Verräter, und das silberne Skelett vor mir weichte auf.
Es sackte zusammen.
Metall löste sich in dicken Tropfen. Vielleicht lösten sich auch die Knochen auf, ich wußte es nicht, aber Hector de Valois zerfiel vor meinen Augen.
Eine Silberlache breitete sich auf dem Boden aus, während das Skelett schmolz.
Von ihm abgegebene Gedankenfetzen erreichten mich. »Nicht du, ich werde nicht mehr gebraucht. Meine Zeit – erfüllt. Du mußt weitermachen. Behalte alles für dich. Komm nicht mehr her – dann wird alles gut für dich.«
Die Gedanken waren plötzlich weg, als wären sie abgesägt worden. Ich hatte mich wieder hingestellt und schaute auf die immer größer werdende Lache zu meinen Füßen. Über die Kante des Podestes war sie geschwappt und bildete einen Teppich, in den auch der Schädel hineinglitt und darauf schwamm.
Die leeren Augenhöhlen waren auf mich gerichtet. Ich empfand dies wie einen letzten Blick des Abschieds, als wäre die alte Zeit vorbei und die neue angebrochen. Das Siegel der Templer war vergangen. Die andere Kraft hatte auch den Stein aufgelöst, und die Umrisse meines Kreuzes vermischten sich mit der silbernen Farbe.
Ich zitterte am gesamten Körper. Über die Lache hinweg schaute ich auf die Lade.
Die beiden Cherubim hatten sich wieder gedreht.
Sie blickten mich aus ihren kalten Gesichtern an wie zwei düstere Todesengel.
Ich nickte ihnen zu. »Ja«, flüsterte ich, die Tränen aus den Augen wischend. »Ich bin zu weit gegangen. Ich habe mich von meiner eigenen Menschlichkeit übertölpeln lassen. Ich trage die Schuld an der Vernichtung des Hector de Valois…«
Es waren schlimme Worte, aber auch Worte, die für mich stimmten. Auf dem Boden lag die Lache. Sie schimmerte sehr schwach, als hätte sich Staub auf die Oberfläche gesetzt.
Die Lade und die beiden Wächter.
Noch einmal schaute ich hin.
Ein letzter Blick!
Dann drehte ich mich um und rannte aus der Kapelle. Wie von einem Sturmwind gepeitscht.
***
Ich war draußen in der samtenen Dunkelheit der Nacht, aber ich bekam es nicht mit. Ich war nicht körperlich fertig, aber innerlich völlig durcheinander. Was in mir toste und brauste, kriegte ich nicht unter Kontrolle. Ich taumelte einfach durch die Dunkelheit, den Kopf noch immer voller Bilder, die ich in dieser Nacht erlebt hatte.
Ich würde sie niemals vergessen. Man hatte mich weit kommen lassen, sehr weit, dann aber waren mir meine Grenzen aufgezeigt worden, und das war auch gut so.
Daß ich gegen etwas Weiches gelaufen war, wurde mir kaum bewußt. Ich war nur in diesen Widerstand hineingefedert und wurde von ihm auch weggeführt.
Ich ging, redete, schüttelte den Kopf und spürte den Druck hinter und in meinen Augen und ließ mich irgendwann zu Boden sinken, was ich aber nur am Rande wahrnahm.
Dann berührte etwas Kaltes meinen Mund, und ich öffnete ihn.
Die Stimme kam aus weiter Ferne und riet mir, das Wasser zu trinken. Ich schluckte automatisch. Das Wasser löschte zwar meinen Durst, aber nicht den Brand
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