1007 - Totenwache
den Körper herum und praktisch aus der Kutte hervor.
Sie war ihm etwas zu lang. Über diese Schwierigkeit kam Suko hinweg. Zuletzt streifte er die Kapuze über und zog sie so zurecht, daß er durch die Augenschlitze schauen konnte.
Auf die Fackel verzichtete er. Suko trat nur den Rest der Flammen aus. Der Qualm stieg an seiner Kutte in die Höhe wie ein feiner Schwaden aus Nebel.
Bisher war er gut zurechtgekommen. Suko hoffte nur, daß es auch so bleiben würde.
Mit diesem Gedanken machte er sich auf den Weg zur Halle…
***
Die Männer um mich herum ließen mich in Ruhe, und das war auch gut so. Ich hatte in der letzten Zeit zahlreiche Schocks wegstecken müssen, aber was sich meinen Augen jetzt bot, das kriegte ich nicht in den Kopf. Da weigerte ich mich, daran zu glauben, obwohl ich es mit den eigenen Augen sah.
Ein Knochenkopf. Ein völlig haut- und haarloser Schädel. Der Kopf meines Vaters. Die Augen waren noch vorhanden, ebenso wie der übrige Körper. Dann sah ich dieses braune, glasartige Schimmern in den Augen. Lalibelas Geist mußte für diese Veränderung gesorgt haben. Eine andere Möglichkeit gab es für mich nicht.
Ich wußte nicht, ob ich atmete oder einfach nur auf der Stelle stand und die Luft anhielt. In mir war alles anders geworden. Eine Vereisung, die sich bis zur Kehle hinzog und von dort weiter in das Gehirn. Dort taute sie dann nur allmählich auf, und zugleich fing mein Herz kräftig an zu schlagen. Durch meinen Kopf tobten Gedanken, die ich nicht fassen konnte. Fragmente irgendwelcher Vorstellungen, und es war mir auch nicht möglich, normal zu denken.
Das also war aus meinem Vater geworden. Ein Monstrum. Ein Mensch mit einem Knochenkopf, in dessen Augenhöhlen sich eine braun schimmernde Flüssigkeit manifestiert hatte.
Diesen Anblick konnte ich nicht länger verkraften. Die Augen meines Vaters schienen mich anzuglotzen. Sie starrten in die Höhe, und ich starrte zurück, aber ich sah nichts in ihnen, was auf eine Botschaft für mich hingedeutet hätte.
So also sah ihr König aus.
Mein Vater!
Zu normalen Lebzeiten mußte er Mitglied der Loge des Königs gewesen sein. Obwohl ich es noch immer nicht akzeptieren konnte, aber es gab da keinen anderen Weg. Sonst wäre er so nicht geworden.
Ich zitterte.
Es war kein normales Zittern, sondern mehr ein zuckendes Beben.
Es schlug Wellen durch meinen Körper. Ich hörte mich selbst schluchzen, ohne allerdings weinen zu können, und neben mir bewegte sich Don Crady. Wahrscheinlich wollte er mir etwas sagen.
Als er seine Hand gegen meinen Arm legte, schüttelte ich sie ab.
»Lassen Sie das, verdammt!«
Unter seiner Kapuze amüsierte sich der Mann, denn ich hörte sein Lachen. »Hören Sie, Sinclair. Wir haben Sie hier nicht grundlos hergeschafft. Sie sollen sehen können, was mit Ihrem Vater passiert ist. Und auch erkennen, daß er zu uns gehört. Ja, er gehört zu uns. Er steht auf unserer Seite. Er ist wichtig, denn ihm ist das widerfahren, was sich jeder andere von uns gewünscht hat. Der Geist des großen Lalibela hat sich in seinem Körper manifestiert.«
Durch die zahlreichen Überraschungen und Schocks der letzten Zeit hatte ich mir auch einen gewissen Panzer zugelegt. Ich nickte, ohne ein Ziel zu haben, aber ich fragte zugleich nach. »Und jetzt? Was wird geschehen, wo Sie es wissen?«
»Es bleibt bei unserem Plan, Sinclair. Wir müssen ihn mitnehmen.«
Mir schoß das Blut in den Kopf. Der Magen drückte sich zugleich zusammen. Innerlich baute sich ein Widerstand auf. Wie eine Mauer. Ich wollte nicht. Ich wollte auf keinen Fall dieser verfluchten Bande nachgeben und hätte mich am liebsten auf die Kerle gestürzt, auch mit einer gezückten Waffe.
Aber ich blieb ruhig.
In diesen Augenblicken wunderte ich mich über mich selbst, wie cool ich plötzlich war. Ich schaffte sogar ein Nicken, als würde ich Don Crady zustimmen. »Wohin wollen Sie meinen Vater bringen?«
Er hob die Schultern. »Das ist meine Sache. Ich und meine Freunde haben schon einen Platz für ihn gefunden, der würdig genug ist. Darauf kannst du dich verlassen.«
Mit dieser oder einer ähnlichen Antwort hatte ich gerechnet, aber ich gab mich damit nicht zufrieden. »Wollen Sie meinen Vater außer Landes schaffen?«
»Denken Sie an Äthiopien?«
»Zum Beispiel.«
»Nein, Sinclair, soviel kann ich Ihnen sagen. Wir werden ihn nicht dorthin schaffen. Noch nicht. Es wird eine Übergangslösung werden, aber ich gebe Ihnen recht. Irgendwann einmal wird er
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