1007 - Totenwache
wurde er aus den beiden Augen hervorgesaugt und erinnerte an die langen Arme zweier Windhosen, die sich in die Höhe und damit der Decke entgegendrehten. Sie prallten dort gegen dieses Hindernis, aber ich hörte kein einziges Geräusch.
Auch nicht das Rauschen eines Windes, das durchaus in diesen Augenhöhlen hätte entstehen können.
Immer mehr von diesen braunen Schleiern wurde aus den Augenhöhlen herausgezerrt. Sie wanderten in die Höhe, sie breiteten sich an der Decke aus, sie wurden zu regelrechten Flächen, die von einer Seite zur anderen schwangen.
Die Gestalt bebte.
Ich ahnte, was folgen würde. Zuckte auch schon vor, um sie festhalten zu können, aber ich wollte plötzlich nicht mehr. Es war nicht mein Vater, es war ein Fremder.
Und diesen Fremden riß es hoch.
Er fauchte förmlich der Decke entgegen. Diesmal rammte er mit dem Schädel dagegen.
Ich rechnete mit einem Zerplatzen und damit, daß die einzelnen Teile auf mich niederregnen würden, aber der Kopf hielt. Nur drehte sich der Körper weiterhin im strahlenden Licht meines Kreuzes unter der Decke. Er war zu einer Puppe geworden, deren Arme durch die Fliehkraft einfach zur Seite wegflogen. Auch die Beine sahen aus wie bei einem Hampelmann, denn da paßte nichts mehr zusammen.
Das braune Licht aus den Augen tanzte unter der Decke entlang.
Für mich sah es aus, als wollte es fliehen, aber es wurde von der Helligkeit meines Kreuzes zurückgeholt – und zerstört.
Eine wirklich lautlose Explosion erfolgte über meinem Kopf. Das Licht zerfetzte die Kraft Lalibelas. Es war nichts mehr da, was die Leiche noch unter der Decke hielt.
Sie fiel nach unten.
Mit den Füßen zuerst prallte sie auf. Blieb dabei nicht stehen, sondern sackte zusammen und rollte mir vor die Füße, ehe ich noch nachfassen konnte.
Da lag mein Vater auf dem Rücken. Eine wilde Hoffung in mir hatte sich nicht erfüllt. Er hatte sein normales Gesicht nicht zurückbekommen.
Ich schaute nach wie vor gegen die Knochenfratze, aber diesmal mit leeren Augenhöhlen. Das sichtbare Zeichen dafür, daß mein Vater von der Macht des Lalibela erlöst worden war.
Aber er war nicht mehr lebendig geworden. Das leider nicht. Er war ein normaler Toter, wenn auch mit dem Schädel eines Skeletts.
Und mein Kreuz hing noch um seinen Hals. Ich würde es ihm abnehmen müssen. Ich wollte auch meinen Vater wieder in den Sarg zurücklegen. Alles keine leichten Aufgaben, denn dieser Mann war ja nicht nur irgendein Toter.
Beim Bücken streckte ich die Arme aus. Dann berührten die Hände den starren Körper. Ich hob ihn nur leicht an, weil ich noch die Kette über seinen Kopf streifen wollte.
Das Kreuz lag wieder auf meiner Handfläche. Die Wärme entschwand allmählich. Ich dachte daran, daß es sich gegen Lalibela gestemmt hatte und mußte daraus folgern, daß sein Geist nicht in den Kreis hineingehörte, der den Mächten des Lichts positiv gegenüberstand.
Lalibela oder das, was von ihm überlebt hatte, mußte sich einfach verändert haben. Vielleicht hatte es an ihm selbst gelegen. Eventuell auch an den ins Land gegangenen Jahrhunderten, in denen er gewartet und sich verändert hatte.
Ich wußte es nicht. Aus dem Himmel in die Hölle oder so ähnlich.
Das Kreuz steckte ich ein. Danach bückte ich mich wieder zu meinem toten Vater und hob ihn an.
Er lag auf den Armen wie ein Kind. Früher hatte er mich so getragen, nun trug ich ihn zurück zu seinem Sarg. Und die Erinnerung an Lalibela, an den Skelettkopf, machte mir nicht einmal etwas aus. Er war wieder zu meinem Vater geworden, was er auch getan und welcher Loge er sich angeschlossen hatte.
Für einen Moment blieb ich neben dem Sarg stehen. Ich schaute hinein, spürte, wie sich in mir alles zusammenzog, und die Leiche auf meinen Armen wurde plötzlich viel schwerer.
Ich zitterte, als ich sie in den Sarg hineinlegte. Dann mußte ich meine Trauer einfach loswerden. Ich konnte den Schrei nicht zurückhalten, taumelte zur Seite und wurde erst von der Wand gestoppt, gegen die ich mit dem Kopf prallte.
Ich war tatsächlich zu einem Nervenbündel geworden. Was ich hier erlebt hatte, das war einfach zuviel. Dabei wußte ich, daß mir der allerletzte Abschied noch bevorstand.
Daß ich zur Tür ging, war mir kaum bewußt. Ich bewegte mich, wie unter einem fremden Einfluß stehend. Mein Kopf pendelte mal nach vorn, dann wieder zurück. Alles war so anders und fremd für mich geworden, und es war mir auch so viel egal.
Ich wollte nicht an die
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