1007 - Totenwache
in dieses Land kommen und dort die Herrschaft übernehmen.«
»Aber er ist tot!« hielt ich dem anderen entgegen.
»Ach. Ist er das wirklich?«
»Ja, zum Henker!«
Crady schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Sinclair. Das glaube ich auf keinen Fall. Er ist nicht tot, wie du es meinst. Er ist anders, wenn du verstehst.«
»Dann rechnet ihr damit, daß er erwacht?«
»Ja, denn in ihm steckt Lalibela. Aber das brauche ich dir nicht zu sagen. Meine Freunde und ich sind fest entschlossen, ihm auch weiterhin jede Ehre zuteil werden zu lassen. Das kannst du nicht verhindern, Sinclair. Es führt kein Weg daran vorbei.«
Ich blickte auf meinen veränderten Vater, übersah dabei bewußt meine tote Mutter und konzentrierte mich auf Cradys Kapuzenschlitze, hinter denen die Augen funkelten. »Ihnen dürfte doch klar sein, daß ich meinen Vater nicht so einfach entführen lasse. Das habe ich Ihnen draußen schon einmal gesagt.«
»Ich habe es auch nicht vergessen. Aber denken Sie nach, Sinclair. Werden Sie denn gegen diese Übermacht hier ankommen? Können Sie das wirklich schaffen? Trauen Sie es sich zu?«
»Ich muß es.«
»Sie wollen sterben, wie?«
»Nein, Crady, aber Sie wissen auch, wer ich bin.«
»Ja, das weiß ich. Ich kenne auch Ihren Vater. Ich bin informiert, aber es wird keine Chance für Sie geben, Sinclair. Horace F. gehörte unserer Loge an, obwohl das für Sie neu sein wird. Und er hat die Folgen zu tragen.«
Es war genug gesagt worden. Ich spürte dies. Man hat einfach das Gefühl, wenn Worte nicht mehr helfen.
Nicht nur mir erging es so. Auch meine Bewacher hatten bestimmte Haltungen eingenommen, als wollten sie sich jeden Augenblick auf mich stürzen. Sie warteten nur darauf, daß etwas passierte, aber den Gefallen tat ich ihnen nicht.
Außerdem wurden wir alle abgelenkt. Jenseits der beiden Bankreihen hörten wir ein typisches Geräusch. Wenig später fingen die Flammen auf den Dochten an zu tanzen, weil ein Luftzug sie streifte und sie dabei zu anderen Figuren machte, die ein schauriges Spiel aus Licht und Schatten veranstalteten.
Von außen war die Tür geöffnet worden.
Selbst Crady zeigte sich überrascht, denn er drehte sich um. Mir hatte er die Beretta noch nicht abnehmen können. Ich nutzte die Gelegenheit und holte die Beretta hervor. Niemand hatte mich dabei beobachtet, und ich hielt das Schießeisen auch so in der Hand, daß die anderen es nicht sahen. Die Mündung zeigte nach unten, und die Waffe selbst verschwand im Schatten meines Körpers.
Ein ebenfalls Vermummter trat ein. Es war einer der beiden Wärter, die draußen Wache gehalten hatten. Sein Kommen wurde nicht eben von freundlichen Kommentaren begleitet. Eine aus flüsternden Worten gebildete Unruhe entstand, die ich ausnutzte, indem ich blitzschnell die Mündung der Waffe gegen Cradys Nacken drückte.
Ich sprach so leise, daß nur er mich hören konnte. »Kein Wort mehr, Crady! Hörst du?«
Er zuckte nur kurz zusammen. Ansonsten verhielt er sich still.
Der Wärter hatte die Leichenhalle betreten, und hinter ihm schwang die Tür wieder zu. Mit einem leisen Schnappen fiel sie ins Schloß, und der Mann ging zwei Schritte weiter. Mir war nicht klar, ob er sich in diesem Umfeld völlig normal bewegte, aber die anderen Vermummten schienen nicht so zu denken.
Sie wollten etwas sagen. Einer löste sich aus der Wartestarre, ging auf seinen Kollegen zu und sprach ihn an.
Der Ankömmling war mittlerweile stehengeblieben. Ein Wort drang nicht über seine Lippen. Dafür nickte er seinem Anführer zu, aber Crady konnte sich nicht bewegen, da er meine Waffe im Nacken spürte.
Der Neue ging weiter. Langsam, als müßte er sich noch orientieren. Selbst mir kam das Gehabe anders vor, und ich schaute an Crady vorbei gegen die Kapuze mit den Schlitzen.
Die Spannung wuchs. Ich fühlte mich sensibilisiert und nahm den Schweißgeruch wahr, der sich ebenfalls ausgebreitet hatte. Niemand wußte, was die nahe Zukunft bringen würde, aber bevor noch einer von uns handeln konnte, geschah etwas mit meinem Vater.
Ein Geräusch war dabei kaum zu hören, aber die Leiche mit dem Totenschädel richtete sich plötzlich auf…
***
Es war ein Bild, das nicht nur mich ablenkte, sondern auch alle anderen. Selbst Crady vergaß, daß eine Waffe auf ihn zeigte. Er stöhnte plötzlich auf, wollte sich drehen, aber zwei Dinge hielten ihn davon ab.
Zum einen meine Waffe, zum anderen die bleiche Totenhand – schon mehr eine Kralle, die sich
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