1007 - Totenwache
plötzlich um sein linkes Handgelenk geklammert hatte, als suchte sie dort eine Stütze.
Die Gestalt hielt sich dort fest. Ich erlebte eine innerliche Hölle, als ich auf meinen Vater schaute, dessen Kopf so ruhig blieb. Im Gegensatz zu seinen Augen. In ihnen war auf einmal eine Bewegung zu erkennen. So etwas wie ein unheimliches Licht füllte sie aus, und ich dachte daran, daß ich noch nicht versucht hatte, mein Kreuz gegen ihn einzusetzen.
Don Crady hatte sich als erster wieder gefangen. »Sie werden es nicht schaffen, Sinclair. Sie werden es nicht schaffen. Der andere ist stärker, glauben Sie mir.«
»Nein!« flüsterte ich. »Die Kugel ist schneller als alle anderen.«
»Sie haben nichts davon, wenn Sie mich erschießen.« Er zuckte, weil der Tote an ihm gezerrt hatte. »Es ist alles vorbestimmt, glauben Sie mir.«
»Nie!«
Wir hatten so laut gesprochen, daß auch die anderen die Worte verstehen konnten. Sie reagierten nicht, bis auf einen. Es war der Mann, der die Leichenhalle als letzter betreten hatte.
Er bewegte seinen linken Arm auf das Gesicht zu. Dann faßten die Finger oberhalb des Kopfes in den Stoff der Kapuze hinein, und ich wußte plötzlich, wer die Halle betreten hatte, denn ich kannte die Hand.
Der Mann riß die Kapuze ab.
Er schleuderte sie weg.
Ich hörte Cradys Fluch. Die anderen Kuttenträger wurden unsicher. Sie wußten nicht, wohin sie schauen und wie sie sich verhalten sollten, denn nicht ihr Kumpan war in die Leichenhalle gekommen, sondern mein Freund und Kollege Suko.
Auch er mußte gesehen haben, was mit meinem Vater geschehen war, aber er hatte sich gut unter Kontrolle. Er wußte die wichtigen von den unwichtigen Dingen zu unterscheiden, denn er sagte:
»Okay, John, wir werden es gemeinsam schaukeln.«
Ich gab ihm keine Antwort, sondern sprach allgemein und verstärkte dabei den Druck der Mündung. »Hören Sie zu. Ich halte hier eine Waffe in der Hand, und euer Freund Crady spürt die Mündung an seinem Hals. Sollte sich einer von euch falsch bewegen, werde ich abdrücken, und das ist ernst gemeint. Hier geht es um viel. Hier geht es um meinen Vater. Ich werde nicht eine Sekunde zögern, Crady zu erschießen.«
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, eine Antwort zu bekommen, aber die Vermummten hielten sich zurück. Kein Wort drang über ihre Lippen. Sie machten allerdings nicht den Eindruck, als hätten sie aufgegeben, und das wußte auch Don Crady.
Er griff ein. »Hört genau zu, was er sagt! Im Moment ist er am längeren Hebel!«
Ich hatte mich schon darüber gewundert, daß Suko seine Beretta nicht gezogen hatte. Den Grund erfuhr ich kurz nach diesem Gedanken. »John, ich hätte gern die Peitsche und die Pistole zurück. Frag mal deinen Freund, ob er die Waffen hat.«
»Haben Sie…?«
»Nein!« flüsterte Don Crady.
»Wer hat sie dann?«
»Gib sie ihm, Victor!«
Ich atmete auf. Zum erstenmal gab Crady nach. Er schien weich geworden zu sein. Der mit Victor Angesprochene stand nahe der Tür. Er wollte vorgehen, doch mein scharfer Befehl hielt ihn zurück.
»Stopp, Mister! Nur die beiden Waffen!«
Er hob die Arme. Danach senkte er sie. Die Kutten schienen Taschen zu enthalten, auch wenn es so aussah, als wären die Hände in den Falten verschwunden. Sie kamen wieder hervor, und ich sah, daß der Mann die Beretta und die Dämonenpeitsche in den Händen hielt. Die Pistole hielt er bewußt mit zwei Fingern fest. Sie kippte jetzt auch, so daß die Mündung zu Boden zeigte.
Suko nahm sie ihm ab. Auch die Dämonenpeitsche holte er sich und ließ sie in seiner Kuttentasche verschwinden. Dabei sah ich, daß er um die linke Hand eine Schelle trug, aber das war nicht weiter wichtig. Durch unsere beiden Berettas hatten wir Oberwasser bekommen, und das mußten wir nutzen.
Don Crady hatte sich wieder gefangen. Von mir wurde er in Schach gehalten. Unterstützt wurde ich von meinem veränderten Vater, denn er hielt ihn ebenfalls fest. Suko kümmerte sich um die anderen vier Vermummten. Er stand so günstig, daß er sie in Schach halten konnte.
Crady bekam wieder Oberwasser. Jedenfalls deutete sein Lachen darauf hin. »Sinclair, es sieht auch weiterhin nicht günstig für dich aus. Du hast keinen Sieg errungen und…«
»Das sehe ich anders.«
»Nein, laß es dir sagen. Auch wenn es im Moment so aussehen mag, der wahre Sieg ist unser. Du weißt wenig, zuwenig über Lalibela und auch über deinen Vater. Die Dinge werden anders laufen und sich so entwickeln, wie wir es
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