101 - Gangster in London
das Geräusch eines Motorrads, das unmittelbar neben dem Fenster ihres Autos zum Stehen kam. Der Fahrer stützte sich mit der Hand an den Wagen und sah herein. Es war der Mann, den sie eben hatte sprechen hören. Er sah sie durchdringend an, und sie erwiderte seinen Blick. »Was wollen Sie?« fragte sie. Er murmelte etwas Unverständliches und blieb zurück, als das Taxi wieder anfuhr.
Sie suchte sich sein Verhalten zu erklären. Wahrscheinlich hatte er vor dem Speicher ihren Namen gehört, als die Möbel aufgeladen wurden, und war ihr nachgefahren, um sich zu vergewissern, ob sie es auch wirklich sei. In dem Fall war sie also wiedererkannt worden. Was machte der Mann nur auf dem Grundstück am Fluß? Vielleicht war er ein Matrose, auf einem kleineren Handelsdampfer beschäftigt?
In der Nähe der Victoria Street wurde ihr Auto durch den Verkehr aufgehalten. Zu ihrem Erstaunen hörte sie plötzlich ihren Namen. Als sie sich umsah, entdeckte sie einen Mann neben dem offenen Fenster.
Er hatte ein schmales Gesicht mit aufgezwirbeltem Schnurrbart und zog den Hut besonders höflich.
»Sie kennen mich nicht, Miss Ranger, aber ich weiß, wer Sie sind. Ich bin Inspektor Tetley von Scotland Yard, Kollege von Mr. Weston.« Er grinste, als er das sagte. »Was hatten Sie denn in diesem Teil der Welt zu tun?«
»Ich habe meine Möbel abtransportieren lassen. Sie waren in einem Speicher untergestellt.«
»Wo lag denn der Möbelspeicher? Ach, in Rotherhithe? Eine entsetzliche Gegend! Haben Sie keinen Bekannten dort gesehen?«
»Nein. Das hätte ich auch nicht erwartet.« »Ich weiß nicht«, sagte er mit merkwürdiger Betonung und beobachtete sie scharf. »Es ist sonderbar, aber in Rotherhithe trifft man immer Leute, die man vorher mal gesehen hat. Das ist direkt sprichwörtlich.«
»Ich kann das nicht bestätigen«, entgegnete sie kühl. Im nächsten Augenblick fuhr ihr Auto an. Sie erinnerte sich nun dunkel, Tetley schon gesehen zu haben: Er war nach Decadons Ermordung ins Haus gekommen. Sie überlegte, ob sie Terry ihr Erlebnis berichten sollte, wurde sich aber nicht schlüssig.
Am Cavendish Square stieg sie aus. Auch der Chauffeur verließ seinen Sitz, um sich ein wenig zu bewegen. »Hallo, was ist denn das?« rief er plötzlich.
Sie folgte seinem Blick. An den beiden Seitenteilen und an der Rückseite des Wagens waren runde weiße Zettel aufgeklebt.
Als der Chauffeur sie abriß, sahen die beiden, daß der Leim noch feucht war. »Das war noch nicht daran, als wir Rotherhithe verließen«, meinte er. »Vielleicht hat dieser Motorradfahrer -«
Ein kalter Schauer überlief Leslie.
Nachdem sie den Mietvertrag für ihre neue kleine Wohnung abgeschlossen hatte, war sie in größter Versuchung, Terry anzurufen. Sie glaubte jetzt, einige gute Entschuldigungsgründe dafür zu haben.
14
Terry Weston kehrte auf schnellstem Weg nach Scotland Yard zurück, um an der geheimen Besprechung teilzunehmen, die am Vormittag abgehalten wurde.
Zu jener Zeit war Sir Jonathan Goussie Polizeipräsident von London, ein Mann, der aus der militärischen Laufbahn hervorgegangen war und sich sein ganzes Leben lang nach Vorschriften und Verordnungen gerichtet hatte. Zu dem hohen Posten war er gekommen, weil er es sorgfältig vermied, irgendwie aufzufallen oder eine Verantwortung auf sich zu nehmen. Er war ein nervöser Mensch, der die Kritik der Presse fürchtete. Durch die letzte Entwicklung der Dinge hatte er einigermaßen den Kopf verloren.
Sir Jonathan saß am Ende des langen Konferenztisches in einem Armsessel. »Wir befinden uns augenblicklich in einer entsetzlichen Situation!« dozierte er erregt. »Die tüchtigste Polizeitruppe der Welt wird plötzlich von einer Verbrecherbande lahmgelegt und geblufft...«
»Was sollen wir denn tun?« fragte Polizeidirektor Wembury, ein Mann von Selbstbeherrschung und Energie. »Ich will nicht sagen, daß wir es an Vorsichtsmaßregeln hätten fehlen lassen«, fuhr Sir Jonathan fort. »Ich bin sicher, daß Tetley alles getan hat, was zu tun war.«
»Ja, ich habe alles getan!« bemerkte Tetley unnötigerweise. Er war ein Liebling des höchsten Vorgesetzten, und obwohl er eigentlich kein Recht hatte, an der Sitzung teilzunehmen, hatte Wembury ihn unter diesen Umständen doch zugezogen.
»Ich will niemandem einen Vorwurf machen«, ergriff der Präsident wieder das Wort, »aber es ist doch allerhand geschehen, was besser unterlassen worden wäre.« Er warf einen mißbilligenden Blick auf Jiggs Allerman.
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