1010 - Das Geheimnis der blutigen Hände
glaube, daß diese Hände der Frau da gehört haben.«
Von mir bekam er keine Antwort. Ich schaute der dunkelhaarigen Frau nach, die mittlerweile die Mitte des Wildbachs erreicht hatte und noch nicht ausgerutscht war. Sie lief so leicht und locker weiter, als wäre es eine ihrer leichtesten Übungen. Da konnte ich nur staunen, denn sie schaffte es auch, trotz der handlosen Arme das Gleichgewicht zu halten. Ein Phänomen.
»Wir haben einen Fehler gemacht, John.«
»Welchen?«
»Wir hätten sie festhalten sollen.«
»Und dann?«
»Hätte sie einfach reden müssen.«
»Dann hättest du sie zwingen…«
»Na und?«
»Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Wir haben sie gesehen, und ich denke stark daran, daß sie aus dem Ort selbst stammt. Wir werden, wenn wir in Pochavio sind, nach ihr fragen.«
»Das ist auch eine Möglichkeit.«
»Die dir nicht gefällt, wie?«
»Ganz und gar nicht.«
»Sieh es mal anders. Ich habe mit ihr gesprochen, und ich glaube nicht, daß wir durch unser Erscheinen bei ihr einen Verdacht geweckt haben. Hätten wir uns jetzt schon dahintergeklemmt, sähe es sicherlich anders aus. So bin ich gespannt darauf, was die Dörfler sagen werden, wenn wir sie auf diese Frau ansprechen.«
»Die werden ihre Mäuler halten und versuchen, uns aus Pochavio zu vertreiben.«
»Rechnen müssen wir mit allem.«
»Okay, fahren wir weiter?«
»Einen Augenblick noch.« Ich hatte mich auf die Frau konzentriert, der es tatsächlich gelungen war, das andere Ufer zu erreichen. Wie eine Tänzerin glitt sie über die letzten Steine hinweg, konnte sich trotz der Glätte sogar noch abstoßen und sprang aufs Trockene, wo sie leicht in den Knien einknickte.
Danach drehte sie sich. Über das Wasser schaute sie hinweg auf uns. Dann hob sie beide Arme, aber es waren keine Hände da, die sie hätte zu Fäusten schließen können. Trotzdem kam es mir vor, als wollte sie uns eine Drohung schicken.
Sekunden später war sie im Gestrüpp des Ufers verschwunden und ließ uns mit den Erinnerungen an sie allein.
Wir gingen zurück zum Auto. Sheila war nicht ausgestiegen, sie schaute uns aber aus großen Augen an, und wir sahen, daß sie zahlreiche Fragen beschäftigten.
»Habe ich mich getäuscht, oder hatte sie keine Hände mehr?«
»Du hast dich nicht getäuscht«, gab Bill zurück.
Sheila verzog den Mund. »Dann wird es wohl nichts mit ein paar Urlaubstagen - oder?«
»Hast du denn damit gerechnet?«
»Irgendwo schon.«
Der Reporter schüttelte den Kopf. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich mich auf meinen Zeugen verlassen kann. Urlaub wird das bestimmt nicht werden, Sheila.«
»Das befürchte ich auch«, murmelte sie.
Bill schaute mich an, und ich deutete nach vorn. Er verstand die Geste und startete.
Wir waren wesentlich ruhiger als zuvor. Die Begegnung mit der handlosen Frau hatte uns schon geschockt, und ich fragte mich, ob der Zufall am Werk gewesen war, weil wir ihr so schnell begegnet waren.
Das Tal blieb im Prinzip eng, auch wenn die Berge hin und wieder zurücktraten, so daß die Ufer des Wildbachs von breiteren Streifen gesäumt werden konnten.
Um diese Zeit hätte die Sonne den höchsten Punkt erreicht haben müssen. Das war auch der Fall, aber dieses Tal blieb von ihr so gut wie unberührt. Es schien so zu sein, als weigerte sie sich, in das Böse hineinzustrahlen.
Wir aber sahen bald den kleinen Ort Pochavio. Die schlichten Häuser standen doch an einer relativ breiten Stelle des Tals und wurden vom Turm einer Kirche überragt, der ebenso schlicht war wie auch die übrigen Bauten.
Glockengeläut empfing uns.
Sehr dünn, kaum wahrnehmbar.
Ich ließ meine rechte Seitenscheibe nach unten fahren. Wir hörten den Klang jetzt besser. Aus dem Fond meldete sich Sheila mit flüsternder Stimme. »Wißt ihr, was das ist? Das ist der Klang einer Totenglocke…«
»Ja«, sagte ich und nickte. »Wir scheinen genau richtig zu kommen…«
***
Flavio di Mestre gehörte ebenso zu den Sargträgern wie Cesare Caprio. Beide hatten die Totenkiste mit den anderen zwei Sargträgern aus der Leichenhalle geholt und sie zum Friedhof getragen. Der Weg war nicht weit, denn die Gräber lagen im Schutz der alten Kirche, die noch aus romanischer Zeit stammte.
Ein paarmal hatte Flavio versucht, mit Cesare über seine Erlebnisse der vergangenen Nacht zu sprechen, aber zu einem Bericht war es nie gekommen, weil sie nicht allein waren, und andere Zeugen konnte Flavio nicht gebrauchen.
Jetzt schleppten sie den
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