1010 - Das Geheimnis der blutigen Hände
einer Felswand entlang, die nicht nur glatt war, sondern zahlreiche Überhänge aufwies, die manchmal wie unförmige Balkone oder Kanzeln überstanden und auch mit kargem Strauchwerk bewachsen waren.
An der linken Seite folgte ein Wildbach der Straße. Er führte noch nicht so viel Wasser, aber durchwatet hätte ich ihn nicht gern. Die starke Strömung würde mich beim Durchqueren von den Beinen reißen. Kein Schild wies auf Pochavio hin. Auf der anderen Seite des Tals reckte sich zwar auch eine Felswand in die Höhe, sie war aber nicht so steil.
Besonders warm war es hier nicht. An sonnengeschützten Stellen lagen noch schmutzige Schneereste. Auf den Gipfeln der Berge schien er dagegen noch sauber zu sein. Dort leuchtete er jedenfalls noch hell.
Bei Gegenverkehr hätten wir schlecht ausgesehen. Deshalb fuhr Bill auch sehr vorsichtig und hütete sich, irgendwelche Kurven auch nur im Ansatz zu schneiden.
Nicht mal ein Postbus verkehrte hier. Wer in diesem Tal lebte, der war fast von allem abgeschlossen. Ich beobachtete, wie das grüngraue Wasser des Wildbachs über die Steine hinwegschäumte.
Die Brocken, zumeist im Laufe der Jahre blank geschliffen, nahmen die gesamte Bachbreite ein.
Wer wollte und konnte, der balancierte von einem Ufer über die Steine hinweg zum anderen hin.
Bisher war uns niemand in einem Fahrzeug entgegengekommen und auch nicht zu Fuß. Das allerdings änderte sich teilweise, als wir die Frau vor uns sahen.
Sie hielt sich direkt am Ufer des Wildbachs auf, und zwar an unserer Seite. Schwarze Haare wehten im Wind. Sie trug einen Pullover und Jeans, wobei die Kleidung nicht eben aussah, als wäre sie frisch gewaschen worden.
»Halt mal an!« sagte ich.
»Warum?«
»Ich will die Frau dort etwas fragen.«
»Was denn?«
Ich verdreht nur die Augen. Bill stoppte und ließ mich aussteigen. Ob uns die einsame Person gehört hatte, wußten wir nicht. Wahrscheinlich war das Rauschen des Wassers zu laut gewesen, da hatte sie den Motor überhört.
Aber sie drehte sich um, noch bevor ich sie erreichen konnte. Das war mit einer schwingenden Bewegung geschehen. Eigentlich war ich ein Mensch, der sich sofort auf das Gesicht eines anderen konzentrierte. In diesem Fall tat ich das nicht, denn bei der Bewegung war mir aufgefallen, daß die Hände der Frau fehlten.
Es traf mich wie ein Schlag. Plötzlich dachte ich daran, was Bill Conolly von den beiden Zeugen gesagt worden war. Zwei Hände ohne Körper hatten den Mann erwürgt.
Und jetzt stand vor mir eine Frau, deren Hände einfach fehlten! Glück, Zufall?
Ich wußte es nicht, aber ich würde ihr sicherlich einige unangenehme Fragen stellen.
Die Frau selbst sprach mich nicht an. Sie schaute nur in mein Gesicht, als wollte sie in, meinen Augen etwas suchen. Sie lächelte nicht, was ich allerdings tat.
»Buon giorno«, sprach ich sie an. Die Frau nickte.
»Vielleicht können Sie uns helfen.«
»Was ist denn?«
»Nun ja, wir wollen nach Pochavio und wissen im Moment nicht, ob wir uns im richtigen Tal befinden.«
Ihr Mund zuckte. »Pochavio?«
»Si.«
»Was wollen Sie dort?«
»Pardon«, sagte ich lächelnd. »Ich wollte nur wissen, ob es der richtige Weg ist.«
Das Gesicht der handlosen Frau verdüsterte sich. »Fahren Sie besser nicht dorthin«, sagte sie. »Der Ort ist wirklich keine gute Gegend für Menschen.«
»He, warum das? Kennen Sie ihn?«
Sie hob die Augenbrauen an und gab damit ihrer Stirn noch mehr Größe. »Ich kenne ihn, und ich kenne ihn sogar gut. Deshalb hören Sie auf meinen Rat.«
Überhört hatte ich ihn nicht, und ich wollte sie nach ihren Armen fragen, als etwas Erstaunliches geschah. Sie drehte sich plötzlich um, so daß sich der Wildbach jetzt nicht mehr in ihrem Rücken befand, sondern vor ihr.
Dann ging die dunkelhaarige Frau einfach los.
Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, denn sie schritt einfach in das eisige Wasser hinein.
Nein, nicht so ganz, denn ihr Fuß fand Halt auf einem Stein. Sie rutschte auch nicht weg und benutzte die Steine wie eine Brücke.
Auch Bill hatte dieses Phänomen gesehen. »Das gibt es doch nicht«, sagte er, nachdem er den Wagen verlassen hatte. »Das ist ja der reine Wahnsinn. Die Frau hat ja keine Hände mehr.« Er lief zu mir und blieb neben mir stehen. »Sag was, John!«
»Ich kann dich nur bestätigen.«
»Und zwei schwebende Hände haben einen Mann erwürgt«, flüsterte er und schlug gegen seine Stirn. »Verdammt, John, du kannst sagen, was du willst, aber ich
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