1014 - Der Seelenkompaß
zu träumen wagten. Aber er hatte das Glück gehabt.
Das Licht wies ihm den Weg.
Mit zielsicheren Schritten stieg er die Treppe hinab. Die Stufen waren leicht gewellt oder muldig, beides wechselte sich miteinander ab, und er mußte an einigen Stellen achtgeben, weil der blanke Stein glatt geworden war, aber die Routine half ihm auf seinem Weg in den Keller.
Es gab kein Geländer an der Treppe. Wer immer den Weg nach unten nahm, mußte schon sehr trittsicher sein, und das war der Mann, in dessen Gesicht sich nichts mehr rührte. In einer schon andächtigen Spannung waren seine Züge erstarrt, und in den dunklen Augen schimmerte freudige Erwartung.
So bewegte er sich Stufe für Stufe seinem Ziel entgegen, das noch im Dunkeln lag. Erst als er die Treppe hinter sich gelassen und das zweite Licht eingeschaltet hatte, schälte sich die Tür in der Steinwand hervor.
Eine alte Tür, die sicherlich längst zerfallen wäre, hätte Phil Warren sie nicht gut ausgebessert, so daß auch niemand durch einen Spalt oder eine Ritze in den Raum hinter der Tür hätte schauen können.
Vor der Tür blieb er stehen. Sie war der einzige Zugang inmitten des Mauerwerks, bei dem sich an zahlreichen Stellen die Feuchtigkeit gesammelt hatte und ein wässeriges Schimmern hinterließ.
Die Tür zu seinem Allerheiligsten war nicht abgeschlossen. Er konnte sie normal aufziehen und brauchte nur einen Metallgriff zu umfassen. Für einen Moment schloß er die Augen, als er die Schwelle überschritt. Das normale Licht blieb hinter ihm zurück. Dennoch war es nicht finster im Kellerraum, denn das andere Licht wurde von dem Gegenstand ausgestrahlt, in dem eine so große Macht steckte.
Phil drückte die Tür zu.
Er schaute den Gegenstand an. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
Nichts hatte sich verändert. Er stand noch so da, wie er ihn in der Erinnerung hatte. Und was hätte sich auch in seinem Refugium verändern sollen?
Nichts, gar nichts.
Er war zufrieden, als er dicht an der Tür stehenblieb. Dann schaute er in die Höhe. Seine Blicke streiften über die Decke hinweg, die nicht mehr so aussah, als bestünde sie aus Stein. Sie kam ihm vor, als hätte sie sich teilweise aufgelöst, um einer anderen Welt Platz zu schaffen, in die Warren hineinschaute.
Es war ein dunkler, fast bläulich schimmernder Himmel, auf dem sich zahlreiche Gestirne abzeichneten, die zum Greifen nahe wirkten, tatsächlich jedoch weit entfernt waren. Es war die andere Sphäre, die des Schicksals, die vor langer, langer Zeit erschaffen worden war. Für ihn hatte dieses über ihm schwebende Bild noch eine andere Bedeutung. Der eigentliche Raum besaß für ihn keine Bedeutung mehr. Er hatte sich regelrecht verloren. Er war zu einer Halle geworden, zu einer Seelenhalle, in deren Mittelpunkt sich genau der Gegenstand befand, um den sich alles drehte.
Der Seelenkompaß!
***
Phil Warren schaute ihn an, lächelte und zwinkerte mit den Augen, weil ihn das Metall dieses Kompasses blendete. Es schimmerte in einem satten Gelb, aber er konnte sich gut vorstellen, daß der Kompaß vergoldet worden war.
Mit einem modernen oder normalen Kompaß hatte dieser nichts zu tun. Er sah aus wie ein Globus, war ebenso rund, aber es fehlte einfach die Deckfläche. Nur die Ringe, die ihn zusammengehalten hatten, waren noch vorhanden. Er konnte sie mit denen eines Fasses vergleichen. Sie liefen an zwei Enden zusammen, einmal oben und einmal unten. In der Mitte lief ein waagerechter Ring entlang, der die senkrecht verlaufenden Ringe festhielt, so daß sie nicht auseinanderbrachen.
Der Seelenkompaß stand auf einem Metallfuß, an dem nichts Besonderes war.
Phil Warren nickte. Er ging um den Kompaß herum. Das Licht strahlte aus den einzelnen Segmenten hervor und verteilte sich als goldener Schein unter der Decke mit den dort angemalten Gestirnen.
Ein Wunder.
Für Phil Warren das Wunder überhaupt!
Mit behutsamen Schritten näherte er sich dem Seelenkompaß. Er blieb vor ihm stehen, streckte seine Hände aus und strich über die goldenen Ringe hinweg.
Es tat ihm gut, und auf seinen Lippen erschien ein Lächeln, als er die Wärme spürte, die von diesem Metall ausging. Es war einfach wunderbar, sie zu spüren, denn diese Wärme war eine andere, als bei normalem Metall.
Sie steckte tief in ihm, aber sie konzentrierte sich nicht nur auf das Metall. Sie war einfach überall, sogar hoch an der veränderten Decke, und so strahlte sie aus dieser fernen Welt auf ihn nieder.
Phil Warren
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