1015 - Henkeraugen
Steifheit war überwunden. Wir setzten uns bequemer hin, und ich ließ meine Blicke streifen. Es waren tatsächlich alle Tische besetzt, bis auf einen, der allerdings sehr ungünstig stand.
Ich kannte keinen der Gäste. Wer hier aß, der mußte eine gut gefüllte Brieftasche mitbringen. Uns brachte man die Getränke, und es wartete schon jemand im Hintergrund mit den Speisekarten.
Der Champagner war perfekt. Von der Temperatur her ebenso wie vom Geschmack.
»Herrlich!« sagte Glenda, als sie den ersten Schluck getrunken hatte. »Das ist eine Wohltat.«
»Finde ich auch«, erklärte Sarah nickend.
»Was essen wir?« fragte ich.
Sarah blitzte mich an. »Reiß dich mal zusammen. Hier läuft alles nach bestimmten Ritualen ab.«
Einem Ritual glich auch das Überreichen der Speisekarte. Der Oberkellner gab sie uns und erkundigte sich, ob wir eine Beratung wünschten.
»Das wäre nicht schlecht«, gab Lady Sarah zu.
»Dann empfehle ich Ihnen unser Menü.«
»Wie viele Gänge?«
»Sechs.«
»Oh.«
»Sie können es aber auch kleiner haben. In vier Gängen.«
»Was sagt ihr?«
»Vier.«
»Gut, Glenda. Und du, John?«
»Ebenfalls.«
Sarah bestellte, der Ober fragte nach den Weinen, aber wir verzichteten darauf, die Karte zu lesen und ließen uns ebenfalls von ihm beraten, da der eigentliche Sommelier an einem Nebentisch zu tun hatte.
Nachdem dies auch hinter uns lag und wir wieder an unserm teuren Prickelwasser genuckelt hatten, faßte ich mir ein Herz und kam auf den eigentlichen Grund der Einladung zu sprechen.
»Mal ganz ehrlich, Sarah. Warum hast du uns ausgerechnet heute zum Essen eingeladen, wo Jane unterwegs ist?«
»Mir war danach.«
»Soll ich dir das glauben?«
»Ja.«
»Weiß Jane denn davon?«
»Nein.« Sie senkte den Blick und fummelte an den Perlen einer ihrer vier Ketten herum. »Ich wollte einfach nicht allein bleiben. Das Wetter war schlecht, ich fühlte mich selbst in einem Stimmungstief. Da hab’ ich mir eben gedacht, daß wir uns hier zusammensetzen, um mal so richtig toll zu dinieren.«
»Gute Idee!« stimmte ich zu. »Solange wir keinen Hintergedanken vermuten müssen.«
»Wie kommt ihr denn darauf?«
So wie die Frage gestellt worden war, mußte ich einfach lachen.
»Sarah, sei mir nicht böse, aber wir haben da schon unsere eigenen Vorstellungen, wie du dir denken kannst.«
»Nein, kann ich nicht.«
»Dann vergiß es.«
Ein Gruß aus der Küche wurde serviert. Eine schmackhafte Mini-Ravioli mit einer Mouse aus Lachs und Seeteufel gefüllt. Dazu gab es eine leichte Soße mit Paprikageschmack, allerdings wirklich nur ein Hauch davon, so daß der andere Geschmack nicht zerschlagen wurde.
Wir konnten zufrieden sein, und allmählich löste sich auch bei mir die Spannung. Ich lehnte mich zurück, was Glenda ebenfalls getan hatte. Ich sah ihr Lächeln und schloß daraus, daß es ihr ebenfalls zu gefallen begann.
»Was gab es noch als Vorspeise?« nahm Sarah den Faden wieder auf.
Glenda wußte die Antwort. »Eine Kombination aus Spargelspitzen und Wildlachs.«
»Oh, sehr gut.« Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber Lady Sarah war plötzlich abgelenkt. Sie nickte in eine bestimmte Richtung und damit einem Tisch entgegen, der in ihrem Blickfeld lag. Ich mußte meinen Kopf etwas drehen, um etwas zu erkennen, und Glenda mußte ihn noch weiter herumdrücken.
An einem Tisch, der relativ nahe an der Wand stand, saßen vier Personen. Zwei davon erwiderten Sarahs Gruß und lächelten zurück. Ich kannte das Paar nicht. Die Frau war schlank, blondhaarig, trug ein hellblaues Kleid mit einem halbrunden Ausschnitt und zeigte allein durch Schmuck, daß sie nicht zu den Ärmsten unter der Sonne gehörte. Die Halskette und die Ohrringe hatten sicherlich ein kleines Vermögen gekostet. Sie war vom Alter her knapp unter Vierzig, und auf mich wirkte sie unnatürlich, geziert und überhaupt nicht locker.
Ihr Mann war älter. Auch nicht so schlank, sondern kompakter, was besonders an seinem dicken und fleischigen Hals auffiel. Wie eine Säule drang er aus dem Kragen. Das kurze dunkle Haar hatte er nach vorn gekämmt. Sein Mund war breit, und die Lippen zeigten einen feuchten Schimmer.
Lady Sarah kannte beide, denn sie hatten ihr ebenfalls zugenickt.
»Du kennst sie?« fragte ich.
»Ja.«
»Gut?«
»Ah – es geht.«
Sie wirkte, als wollte sie nicht so recht mit der Sprache herausrücken, und den gleichen Gedanken verfolgte auch Glenda Perkins.
»Was ist denn mit denen? Ich kenne sie
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