1015 - Henkeraugen
Überzeugung, daß Rodney Chesterton zurückkehren würde, auf welche Weise auch immer.
»Wurde das denn von den Eltern geglaubt?« fragte Glenda.
»Es scheint so.«
»Dann haben sie Angst.«
»Sicher.«
»Sie hätten doch bei ihrem Sohn bleiben können. Statt dessen sitzen sie hier und…«
»Das stimmt alles. Nur haben sie einen dringenden Termin, und ich denke, daß Eugen bei Jane Collins gut aufgehoben ist. Er hat sich ja mit dem Henker verstanden.«
»Nein«, sagte ich, »mit dessen Bild.«
»Es gab zwischen ihnen Kontakt. Fragt mich nur nicht, wie das abgelaufen ist.«
»Die Chestertons fürchten sich also vor dem Henker«, faßte ich zusammen. »Sie haben Angst davor, daß er ihnen etwas antut. Daß er zwar ein Gemälde ist, aber kein normales. Daß er sich möglicherweise aus dem Bild lösen könnte – oder…?«
»Das wäre im Bereich des Möglichen«, gab Sarah zu.
»Ein Geist?« flüsterte Glenda.
»So ungefähr.«
»Und einer, der Rache nehmen will«, sagte ich. »Sonst hätte das Ehepaar keine Furcht.«
Sarah Goldwyn lehnte sich zurück und lächelte. »Ich freue mich, daß ihr mir so weit gefolgt seid.«
»Was blieb uns anderes übrig«, erwiderte ich. »Aber ich frage mich, wie es jetzt weitergehen soll.«
»Keine Ahnung.«
»Sollen wir die Chestertons die ganze Nacht über bewachen wie Jane deren Sohn?«
»Nein, das nicht. Sie haben allerdings Angst, daß sich der Henker auf den Weg zu ihnen macht.«
»Das soll heute sein?« hakte ich nach. »Ausgerechnet heute? Warum denn nur?«
»Weil er genau heute vor zweihundert Jahren gestorben ist, und auf keine sehr schöne Art und Weise, wie ich hörte. Aber Einzelheiten sind mir leider verborgen geblieben. Man sagte nur, daß der Henker so starb wie er gelebt hat.«
»Da bleibt nur die Gewalt?«
Sarah stimmte mir zu.
»Aber Gewalt erzeugt oft Gegengewalt, was man hier auch mit dem Begriff Rache umschreiben kann, nicht wahr?«
»Du hast es erfaßt, Glenda. Ein Henker kann töten. Er wird töten, und er wird es auch nicht verlernt haben, darauf könnt ihr Gift nehmen. In welch einem Zustand er sich auch befinden mag, ich glaube immer daran, daß er stärker als ein Mensch ist. Zumindest stärker als ein normaler Mensch«, sagte Sarah. »Wir können es hier mit einem mordenden Monster zu tun bekommen.«
»Ho«, sagte ich. »Das hört sich an, als wüßtest du bereits mehr, als du hast zugeben wollen.«
»Nein, John, das weiß ich nicht. Ich habe einfach nur nachgedacht und kombiniert. Das ist alles.«
»Bei deiner Phantasie kein Wunder, daß dann so etwas dabei herauskommt.«
»Ich würde mir selbst nicht wünschen, daß es zur grausamen Wahrheit wird. Fest steht, daß die Chestertons Angst haben. Fest stand auch ihr Termin heute. Er muß für sie ungemein wichtig gewesen sein, sonst hätten sie ja ihren Sohn nicht allein gelassen. Jedenfalls haben wir unsere Pflicht getan, und ich weiß auch, daß die Chestertons beruhigter sind, seit sie uns gesehen haben.«
»Hast du ihnen denn von Glenda und mir erzählt?«
»So in etwa.«
»Aha.«
»Was heißt das?«
Ich streichelte ihre Schulter und dann ihren Arm. »Es heißt, daß ich mich jetzt auf die Suppe freue. Auf Brunnenkresse oder so ähnlich.«
»Stimmt schon«, sagte Glenda.
»Und du bist auch nicht sauer auf mich, mein Junge?« erkundigte sich Sarah.
»Nein, warum sollte ich? Himmel, Sarah, ich kenne dich doch lange genug. Daß du uns nicht ohne Hintergedanken eingeladen hast, dazu noch ohne Jane, hat uns schon mißtrauisch gemacht.«
»Sie war ja beschäftigt.«
Ich schaute zum Nebentisch hinüber, wo die Chestertons saßen, es aber vermieden, einen Blick auf uns zu werfen. Sie gaben sich locker und selbstbewußt, weil sie es mußten. Auf mich jedoch wirkte alles nur gespielt.
Man servierte die Suppe. Sie schimmerte grünlich und war leicht schaumig geschlagen worden. Nicht zu schwer, nicht zu viele Kalorien, so etwas gehörte einfach dazu.
»Dann wünsche ich nochmal guten Appetit«, sagte Sarah, bevor sie den Löffel eintunkte.
Auch diese Speise enttäuschte nicht. Sie mundete wirklich ausgezeichnet. Alles hätte wunderbar sein können, hätte nicht diese seltsame Drohung in der Luft gelegen. Sie war bisher nur ausgesprochen worden, aber Sarah hatte schon mit großer Intensität geredet und uns zum Nachdenken gebracht.
Ich fragte mich, ob tatsächlich etwas passieren würde. Dabei war ich so sehr mit meinen Gedanken beschäftigt und achtete auch nicht auf die
Weitere Kostenlose Bücher