1015 - Henkeraugen
verdammte Hexenhaut!« schrie Jane, als wolle sie die Leinwand beschwören.
Ihre Rechnung ging auf.
Die Macht des geweihten Silbers reagierte ähnlich wie ein Feuerstoß. Plötzlich zuckten dort, wo sich die beiden Löcher befanden, die Flammen an den Rändern auf. Das Feuer blieb nicht klein. Innerhalb kurzer Augenblicke breitete es sich aus. Wir vernahmen ein schwappendes Geräusch, dann huschten die langen Flammen wie lange Drachenzungen in das Bild hinein und auch darüber hinweg.
Die Haut brannte wie trockenes Papier. Und das Feuer blieb nicht auf sie beschränkt. Der Henker, der das Bild hatte verlassen wollen, wurde ebenfalls von den Flammen erfaßt. Ob er noch voll und ganz im Bild steckte oder ob er es zu einem gewissen Teil verlassen hatte, das war für uns leider nicht festzustellen. Letztendlich spielte es auch keinerlei Rolle.
Feuer ist Feuer.
Und Feuer kann vernichten!
Rodney Chesterton brannte auf seine Art und Weise. Er loderte nicht, wie es normal gewesen wäre, nein, das durch die geweihte Kraft des Silbers entstandene Feuer schmolz ihn einfach dahin. Er löste sich innerhalb der Flammen vor unseren Augen auf. Dabei lief er zusammen, wie eine Wachsfigur, und auch die brennende Leinwand kräuselte sich allmählich. Sie rollte sich ein. Sie hatte Falten geworfen, sie stank widerlich und wurde allmählich schwarz.
Die Gestalt des Henkers war zusammengesackt. Sie bildete nur noch einen Klumpen. Es war nicht zu unterscheiden, wo sich der Kopf vom Körper abhob. Rodney Chesterton war dabei, in einen Rest überzugehen und nie mehr zurückzukehren.
Es gab keine Hitze. Es gab auch keinen Rauch, der uns den Atem geraubt hätte. Es gab nur den widerlichen Gestank, der dahinschmelzenden Hexenhaut.
Jane und ich waren von dem Anblick zu sehr gefangengenommen worden. Erst Glenda brachte uns darauf, daß es noch einen Jungen gab, der unter dem Einfluß des Henkers gestanden hatte.
»Wir müssen uns wohl um Eugen kümmern.«
Mehr sagte sie nicht. Es reichte auch. Sie hielt ihn nicht mehr fest oder nur sehr locker berührten die Hände die Schultern des Jungen.
Eugen schaute uns an.
Nein, das war nicht der richtige Ausdruck. Er konnte uns nicht mehr sehen. Die Henkeraugen waren bei im verschwunden. Es gab diese dunklen Ölpfützen in seinem Gesicht nicht mehr, aber er hatte auch nicht mehr sein normales Augenlicht zurückbekommen.
Wir wußten, was mit ihm geschehen war, und das sprach er selbst aus. »Ich bin blind!« schrie er. »Ich bin blind! Ich kann nichts mehr sehen!« Er geriet in Panik, und plötzlich brach der Strom von Tränen aus ihm hervor.
In mir stieg ein gewaltiger Haß hoch. Aber ich konnte nichts mehr tun. Die beiden Frauen würden sich um Eugen kümmern. Ich machte mich auf den Weg nach unten und warf dem verdammten Bild noch einen letzten Blick zu.
Da war nichts mehr zu sehen. Nur der leere Rahmen und in seinem Innern die Wand mit den beiden Kugeleinschlägen.
Daß dieser Fall so enden würde, damit hätte ich wirklich nicht gerechnet.
***
Sarah Goldwyn stand neben der im Sessel sitzenden Julia Chesterton, die auch weiterhin völlig apathisch war und nichts von ihrer Umgebung mitbekam.
Sarah nickte mir zu. »Wie ein Held siehst du nicht eben aus, John.«
»Ich fühle mich auch nicht so.«
»Was ist passiert?«
»Gleich werde ich es dir sagen«, erwiderte ich, »aber zuvor würde ich gern einen doppelten Whisky trinken. Vielleicht spült der den bitteren Nachgeschmack weg…«
Mehr sagte ich nicht. Ich wollte einige Minuten haben und nachdenken. Auch über die Ungerechtigkeit des Lebens, die nicht einmal vor Kindern Halt machte…
ENDE
[1] Siehe John Sinclair Nr. 1014 »Der Seelenkompaß«
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