1015 - Henkeraugen
Verbrechen gewesen war«, entgegnete der Junge, »aber Rodney Chesterton hat zu seiner Zeit als Henker gearbeitet. Das konnte ihm unsere Familie nicht verzeihen, besonders meine Eltern nicht.«
»So ist das«, sagte Jane. Sie dachte wieder an das Bild in ihrem Fahrzeug. Dabei schielte sie auf den Jungen. Sie erhoffte von ihm eine Reaktion, doch Eugen rührte sich nicht. Er schien regelrecht eingefroren zu sein.
»Denkst du auch so, Eugen?« fragte Jane.
»Wie meinen Sie das, Miß Collins?«
»Nun ja, daß dieser Rodney ein schlimmer Mensch gewesen sein muß. Schlimm und gefährlich. Ich kann mir vorstellen, daß du des öfteren hier oben vor dem Bild gestanden und ihn angeschaut hast. Jungen in deinem Alter müssen einfach neugierig sein. Oder bin ich da auf dem falschen Dampfer?«
»Ich glaube nicht.«
»Du hast ihn gesehen?«
»Oft.«
»Auch seine traurigen Augen?«
Als Jane diesen Satz ausgesprochen hatte, erlebte sie zum erstenmal bei diesem Jungen eine Reaktion. Er riß den Mund auf und schnappte nach Luft. Dann fing er an zu zittern. Jane wollte ihn trösten, aber als sie ihn anfaßte, wich er so heftig zur Seite, als hätte die Detektivin die Pest.
»Tut mir leid, Eugen, ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen.«
»Schon gut, Miß Collins. Was wissen Sie über die Augen des Henkers? Woher kennen Sie die traurigen Augen?«
»Ich habe davon gehört.«
»Von wem?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Ja. Ich kann es mir denken. Es muß mein Vater gewesen sein. Oder auch meine Mutter. Sie haben Angst um mich. Sie mußten nach London, sie konnten in der Nacht nicht mehr zurückkehren. Es geht um Geschäfte, und ich sollte hier im Haus bleiben. Aber sie haben ein schlechtes Gewissen bekommen und wollten mich nicht allein lassen. So ist das doch gewesen. Sie sind engagiert worden, um mich zu beaufsichtigen. Sie sind mein Babysitter.«
»Wobei ich den Ausdruck schon etwas übertrieben finde«, erwiderte Jane.
»Man sagt es so.«
»Auch deine Eltern?«
»Ja.«
»Freust du dich denn nicht darüber, daß sie sich deinetwegen derartig große Sorgen machen?«
Bisher hatte der Junge die Antworten spontan gegeben. Nun aber fing er an, nachzudenken. Er runzelte dabei die Stirn und hob die Schultern. Er war sich nicht sicher.
»Was denkst du jetzt, Eugen?«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll. Vielleicht haben sie sich Sorgen gemacht. Vielleicht auch nicht.«
»So solltest du nicht denken. Außerdem brauchst du wirklich keine Angst zu haben, denn ich bin bei dir.« Jane glaubte, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen des Jungen zu sehen. Möglicherweise die Reaktion darauf, daß er sie nicht ernst nahm. »Was hast du denn?« hakte sie nach.
»Sie sind eine Frau!«
»Ah, so ist das!« Jane konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. »Du bist ein kleiner Macho – wie?«
»Keine Ahnung.«
»Die Antwort hörte sich aber so an.«
»Mein Vater hat immer gesagt, daß Männer stärker sind als Frauen. Ich glaube ihm.«
Jane schüttelte den Kopf. Sie seufzte dabei. »Leider steckt dieses Rollenbild noch immer in den Köpfen vieler Männer. Es wird schwer sein, es daraus zu vertreiben. Ich möchte darauf nicht weiter herumreiten. Jedenfalls werde ich die Nacht über hier im Haus bleiben, und wir werden uns unterhalten können. Meinetwegen kannst du auch in die Glotze schauen, wenn du dich nicht unterhalten willst. Das ist mir eigentlich ziemlich egal.«
»Haben Sie denn keine Angst?«
»Vor wem?«
Eugen hob die Schultern. Sicherlich hätte er eine Antwort geben können, aber er hielt sich damit bewußt zurück und wollte Jane auf die Folter spannen.
»Oder meinst du vor dem Henker?«
Eugen schwieg. Dann saugte er die Luft ein. Danach räusperte er sich. »Es gibt ihn noch.«
»Stimmt.«
Der Junge war durch die letzte Antwort irritiert worden. »Wie können Sie das behaupten?«
»Vielleicht habe ich ihn gesehen, Eugen. Seine Augen, die so dunkel sind und so traurig blicken. Es ist schön möglich, daß ich etwas mehr über den Henker weiß. Aber leider nicht genug.«
»Ja, seine Augen sind traurig. Sogar sehr traurig.«
»Warum?«
»Keine Ahnung. Ich habe ihn mir oft angesehen. Ich stand hier vor dem Bild, bis meine Eltern das nicht mehr wollten und mich weggezogen haben. Sie trauten mir auch nicht so recht und haben das Bild abgehängt.«
»Wo ist es jetzt? Oder wurde es zerstört?«
»Nein, das nicht. Sie haben es in einen anderen Raum gestellt, der nicht bewohnt ist. Dort wurde
Weitere Kostenlose Bücher