1015 - Henkeraugen
Stoff hielt er mit einer Hand fest, er zog kräftig daran, und die Decke rutschte an der Bildseite nach unten.
Jane schaute zu.
Sie hatte nach ihrem Erlebnis im Auto mit allem gerechnet, sogar mit dem Unwahrscheinlichen.
Das war gut so.
Überrascht war nur der Junge, der einen leisen Schrei ausstieß und ebenso auf das Bild schaute wie Jane.
Nein, nicht mehr auf ein Bild, sondern auf eine leere Leinwand, die innerhalb des Rahmens steckte.
Rodney Chesterton, der Henker mit den dunklen, traurigen Augen war verschwunden…
***
Ich hatte erst gar nicht zu Glenda Perkins’ Wohnung hochgehen müssen. Vom Fenster aus hatte sie gesehen, wie ich den Rover vor dem Haus stoppte, und sie war heruntergekommen, wobei sie in der offenen Haustür stehenblieb und naserümpfend gegen den Schnürregen schaute, der sich noch immer über London ausließ.
»Soll ich mit dem Schirm kommen?«
»Nein!« rief sie zurück. »Hast du denn die Blumen besorgt?«
»Genau so wie du es mir aufgetragen hast.«
»Okay.«
Sie startete, um so schnell wie möglich in meinen Rover eintauchen zu können. Ich hatte ihr die Beifahrertür geöffnet, so daß sie keine Zeit verlor.
Aufatmend ließ sich Glenda in den Sitz fallen, atmete tief durch und lachte leise, wobei sie den Kopf schüttelte.
»Was ist los?«
»Ich kann noch immer nicht fassen, daß Sarah Goldwyn dich und mich zum Essen eingeladen hat, aber ohne daß Jane Collins mit von der Partie ist.«
»Sie hat einen Job übernommen, der zieht sich bis zum anderen Morgen hin.«
»Sagt Lady Sarah.«
Ich war inzwischen angefahren. »Warum betonst du das so seltsam? Glaubst du ihr etwa nicht?«
»Nein, John, so meine ich das nicht. Aber Sarah tut eigentlich nichts ohne Hintersinn.«
»So schlecht habe ich nie über sie gedacht, wenn ich ehrlich sein soll.«
»Das ist auch kein schlechtes Denken. Sie setzt sich aus der Summe zahlreicher Erfahrungen zusammen.«
Ich wollte witzig sein und sagte: »Vielleicht will sie uns endlich verkuppeln.«
Glenda tippte nur gegen ihre Stirn und schwieg sich ansonsten aus.
Auf eine gewisse Art und Weise hatte Glenda schon recht. Es war ungewöhnlich für uns, von Lady Sarah zum Essen eingeladen worden zu sein, vor allen Dingen auch, weil Jane Collins nicht mit von der Partie war. Dazu noch in ein sehr exklusives Restaurant, in dem man auch entsprechend gekleidet erscheinen mußte.
So hatte ich meine übliche Lederjacke mit einem Anzug vertauscht. Grau und mit feinen Nadelstreifen durchsetzt. Darunter trug ich ein weißes Hemd, und die Krawatte besaß ein lebhaftes Muster.
Zufällig hatten mich Shao und Suko in diesem Outfit gesehen.
Vielleicht hatten sie mich auch bewußt abgepaßt, als ich die Wohnung verlassen hatte. Jedenfalls hatten sie nur staunen können und mich beinahe schon mit Sie angesprochen.
»Na, dann sieh mal zu, daß du dich nicht bekleckerst«, hatte Suko gesagt, als wäre ich ein kleines Kind. Aber Shao hatte sehr lieb und nett gelächelt.
Wie auch Glenda jetzt, die ebenfalls elegant aussah. Das lachsfarbene Kostüm stand ihr sehr gut. Dazu paßten auch die hellen Strümpfe und die hochhackigen Schuhe. Ihre Handtasche war aus hellem, weichem Leder gefertigt, und die dunklen Haare hatte sie nach hinten gekämmt.
»Welchen Grund könnte unsere Freundin Sarah denn gehabt haben?« fragte Glenda, als ich an einem Kreisverkehr halten mußte.
»Wir sind eben nett.«
»Ich schon – aber du…?«
»Hör auf. Gib nicht so an.«
Glenda ballte eine Hand zur Faust. »Nein, John, da steckt etwas dahinter. Davon bin ich überzeugt. Ich glaube auch nicht, daß Jane nicht dabei ist, weil wir zwar Burgfrieden geschlossen haben, aber nicht eben die besten Freundinnen sind. Ich denke, daß sie es uns sagen wird, wenn wir sie gleich abholen.«
Davon war ich zwar nicht überzeugt, denn Lady Sarah war schon eine raffinierte Person. Zudem hatte Glenda den Namen Jane Collins erwähnt. Ich wollte auf die Detektivin nicht näher eingehen, denn die letzte Nacht, die wir gemeinsam verbracht hatten, lag noch nicht lange zurück. Allerdings waren wir dabei sehr brutal gestört worden. Es mußte Sarah ein anderes Problem auf der Seele brennen, und es konnte durchaus sein, daß es mit ihrer jüngeren Freundin und Mitbewohnerin Jane Collins zusammenhing.
Wir hackten auch beide nicht mehr auf diesem Thema herum. Da wir allein waren und auch Zeit für uns hatten, sprach Glenda ein privates Thema an. »Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, was
Weitere Kostenlose Bücher