1021 - Ich jagte den untoten Engel
und ich war weiterhin allein auf mich gestellt.
Jetzt fror auch ich. Nur lag das nicht an meiner feuchten Kleidung allein. Es war die Angst vor dem Ungewissen und auch die vor einer Kreatur namens Doriel.
Ich hatte gewußt, daß sie mächtig war, aber ich hatte trotzdem ihre Macht unterschätzt.
Wie ging es weiter?
Es gab nur eine Möglichkeit. Hier auf dem See konnte ich nicht bleiben. Ich würde wieder zurück bis an das Südufer fahren, wo die wenigen Häuser standen und es in einem auch die Möglichkeit zur Übernachtung gab. Nicht komfortabel, aber Wanderer waren schon froh, ein Dach über dem Kopf zu haben.
Jane Collins lag noch immer wie tot und mit farblich veränderter Haut auf der Decke. Sie war möglicherweise in ein Koma gefallen und nicht bewußtlos wie zuvor.
Ich streichelte ihr Gesicht mit einer schon traurigen Bewegung. Sie zeigte keine Reaktion. Ihr Herz schlug schwach, auch der Pulsschlag war zurückgegangen, doch sie lebte, und das interessierte mich im Augenblick am meisten. Zudem wollte ich, daß es so blieb. Sie sollte nicht in die Klauen dieses untoten Engels geraten.
»Wir schaffen es, Jane!« flüsterte ich ihr zu. »Wir schaffen es gemeinsam.«
Sie schwieg, und ich drehte mich um, weil ich meinen Platz am Ruder einnehmen mußte.
Dabei fiel mein Blick auf den Himmel. Er war noch blau, aber die dort hängenden Wolken hatten ihre weiße Farbe verloren und waren eingegraut. Normal für diese Gegend. Ich allerdings befand mich in einer Stimmung, diese Normalität als ein böses Vorzeichen anzusehen.
Der Kampf gegen Doriel hatte erst begonnen. Er würde einen Teufel tun und mir Jane überlassen.
Wie ich ihn einschätzte, würde er sie zurückholen wollen. Dabei mußte er sich zeigen.
Und genau darauf wartete ich!
***
Vor mir erschienen die wenigen Häuser wie eine lichte Kulisse im Gegenlicht. Menschen sah ich auch, aber es waren noch weniger als vor einigen Stunden.
Allerdings stand ein Mann am Steg, schaute über den See hinweg und mir entgegen.
Es war der bärtige McCormick, bei dem ich mir das Boot ausgeliehen hatte. Er bewegte sich nicht.
Erst als ich nahe an ihn herangekommen war, trat er auf mich zu und nahm das andere Tauende entgegen, das ich ihm zuwarf.
Sein Sohn war dabei, die draußen stehenden Waren wie Ständer mit den Ansichtskarten und Angelfutter einzuräumen. Der Wind war kälter und auch böiger geworden. Gleichzeitig hatte der Himmel zwischen den Wolken eine leicht gelbliche Farbe angenommen, was auf ein Gewitter hindeutete.
McCormick vertäute das Tau um einen Poller und schaute zum Himmel. »In spätestens zwei Stunden wird es ordentlich krachen. Das kann ich Ihnen versprechen.«
»Wenn Sie das sagen.«
»Glauben Sie mir. Ich habe Erfahrung.« Er war auf dem Steg stehengeblieben, die Hände in die Hüften gestützt und schaute auf mich herab. Dann schüttelte er den Kopf. »Sie sehen aus, Mr. Sinclair, als wären Sie über Bord gegangen.«
Ich nickte dem Bootsverleiher zu. »Ob Sie es glauben oder nicht, Mr. McCormick, aber Sie haben recht. Ich bin tatsächlich in den See gefallen.«
Er lachte. »Sie konnten ja schwimmen.«
»Sicher.«
Dann wurde er wieder ernst. »Und Sie haben eine junge Frau herausgefischt, wie ich sehe.«
»Kennen Sie die Lady nicht?«
Er schaute genauer hin und atmete schnappend ein. »Himmel, das ist ja die Person, die sich bei mir ein Boot geliehen hat.«
»Genau. Sie heißt Jane Collins.«
»Stimmt. Hatte ich vergessen.« Er schüttelte den Kopf. »Was ist denn passiert? Sie… sie… sieht ja aus wie tot.«
»Da haben Sie recht. Zum Glück ist sie es nicht. Ich muß aber in den nächsten Stunden bei ihr bleiben. Kennen Sie hier einen Ort, an dem wir allein sind?«
»Ich habe einen Schuppen hinten angebaut.«
»Das wäre nicht schlecht.«
»Darf ich Sie mal was fragen, Mr. Sinclair?«
»Immer.«
Er deutete auf Jane. »Sie können mich auch für einen Spinner halten, aber ich meine schon, daß Miß Collins sich im Vergleich zu den letzten Tagen verändert hat. Ihre Haut, wissen Sie…«, er suchte nach Worten. »Sie ist so anders geworden.«
»Das stimmt.«.
McCormick überlegte nicht lange. »Hat sie denn so lange im Wasser gelegen?«
»Ich habe sie soeben noch retten können.«
»Ja, das dachte ich mir.« Er räusperte sich. »Sie haben Jane Collins ja gesucht. Wo fanden Sie…«
»Im Haus. Besser gesagt, im Keller.«
Der Mann schluckte die Notlüge, weil er es nicht besser wußte. »Dann hat sie so lange dort
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