1021 - Ich jagte den untoten Engel
gewesen, doch man hat ihn ausgestoßen. Er nennt sich nur so.«
»Für mich ist er das.«
»Hättest du noch ein wenig gewartet, wäre ich gekommen, um dich herauszuholen. Aber…«
»Du bist schwach, John!« unterbrach sie mich. »Du kannst gegen ihn nicht bestehen. Er ist dir über. Seine Macht ist schon fast grenzenlos. Ich kann ihn nur anhimmeln. Er ist mein neuer…«
»Sprich es nicht aus.«
»Doch!« schrie sie mich an und richtete sich dabei auf. »Er ist mein neuer Liebhaber. Ich habe ihn gespürt, und ich werde ihn noch öfter spüren, darauf kannst du dich verlassen.«
»Haben denn Engel Zungen wie Reptile? Wie widerlich müssen sie eigentlich sein?«
»Seine Zunge ist wunderbar. So weich, so herrlich. Sie hat mich liebkost, ich habe sie genau gespürt. Sie glitt über mein Gesicht hinweg. Sie hat mich sogar geküßt. Es überkam mich wie bei einem elektrischen Schlag. Ich spürte ihn so intensiv. Seine Nähe und seine gewaltige Kraft, die größer ist als die eines stärksten Menschen. Das kann ich dir schwören.«
Ich glaubte ihr. Ich glaubte ihr jedes Wort. Aber ich fühlte mich zugleich auch angestachelt. Ich wollte nichts mehr davon hören. Allein die Vorstellung, daß die Zunge des Doriel über ihre weiche Haut geglitten war, machte mich fast irre.
»Auch dich wird er bekommen, John.«
»Ich weiß es nicht. Zunächst einmal habe ich dich zu mir geholt, Jane. Das ist mir wichtig gewesen. Ich bin deinetwegen hergekommen. Geschickt von Sarah Goldwyn. Sie sorgte sich um dich. Sie steckte mich mit ihren Sorgen an, und sie hat recht behalten, wenn ich bedenke, was alles geschehen ist.«
»Sarah interessiert mich nicht mehr!« erklärte Jane.
Diese Antwort reichte mir aus, um mir endgültig zu beweisen, daß sie auf der anderen Seite stand.
Gerade das Verhältnis zwischen ihr und der Horror-Oma war immer ein besonderes gewesen. Ähnlich wie zwischen einer Tochter und der Mutter. Da hatten sich wirklich Menschen gesucht und gefunden. Jetzt aber war das Tuch zwischen ihnen zerschnitten.
Ich wußte, daß Sarah Goldwyn in London saß und auf meine Nachricht wartete. Aber konnte ich es riskieren oder übers Herz bringen, ihr die volle Wahrheit zu sagen?
Nein, bei allen Heiligen. Das hätte sie fertiggemacht. Deshalb würde ich mich bei einem Anruf sehr kurz fassen und die Wahrheit verschweigen.
Schon traurig fragte ich: »Du siehst deine Zukunft an Doriels Seite, Jane?«
»So ist es!«
»Du weißt, daß ich dagegen bin und alles unternehmen werde, um dies zu verhindern.«
Ihr Lachen fegte mir entgegen. »Was willst du denn unternehmen, Sinclair?« Jetzt redete sie zu mir wie zu einem Fremden. »Nichts kannst du erreichen. Doriel ist stärker, viel stärker. Er ist mächtiger. Er ist ein Idol, ein Engel. Er schafft es, die Menschen in seinen Bann zu ziehen. Das solltest du wissen.«
»Das kann sein. Aber es gibt etwas, vor dem auch er sich fürchten wird. Das befindet sich in meinem Besitz. Du weißt genau, was ich damit meine, Jane.«
»Ich will es nicht sehen!« sagte sie scharf.
»Warum nicht? Fürchtest du dich? Hast du Angst vor seiner Kraft, Jane? Vor dem Guten? Den Kräften des Lichts? Bist du schon so weit abgerutscht, meine Liebe?«
»Hör auf damit, verdammt!«
»Du hast es einmal gemocht. Du hast ihm ebenso vertraut wie ich. Es hat dich sehr oft beschützt, und ich glaube, daß es das auch jetzt tun wird, auch wenn möglicherweise deine alten Hexenkräfte wieder stärker geworden sind. Eines sage ich dir, Jane. Ich möchte und werde dich nicht an diesen untoten Engel verlieren. Das ist mein voller Ernst. Ich werde alles daransetzen, um Doriel vernichten.«
Sie lachte hämisch und meckernd. »Das schaffst du nicht. Das bildest du dir nur ein. Niemand schafft es als Mensch, denn er ist mächtiger. Wie oft soll ich dir das noch sagen, verdammt?«
»Das brauchst du nicht mehr. Ich habe dich verstanden, aber ich will wissen, wie weit seine Macht tatsächlich geht.« Noch während des Sprechens hatte ich meinen Arm bewegt.
Jane kannte diesen Griff, der ihr oft geholfen hatte. Diesmal aber haßte sie ihn.
»Nein!«
»Doch, Jane. Du wirst dich dem Kreuz stellen müssen. Du wirst es ansehen. Ich kann dich dazu zwingen.«
Sie hatte Angst, fürchterliche Angst vor dem Anblick. Sie blieb auch nicht mehr sitzen. Sie handelte in Panik.
Blitzschnell sprang sie auf.
Mein Griff verfehlte sie, und als ich nachfaßte, hatte sie sich bereits umgedreht. Sie brauchte nicht weit zu laufen, um
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