1022 - Der Lockvogel
führe hier eine Verkehrkontrolle durch und hätte mir gern Ihre Papiere angesehen, Mister.«
Sheen sagte nichts. Er wußte, daß er reagieren mußte, nur brachte er es nicht fertig. Er saß da, starrte die Frau an und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen.
Ein noch junges Gesicht. Er schätzte sie auf Mitte Zwanzig. Unter der Mütze sah er den Ansatz der hellen Haarfarbe. Er nahm sogar einen leichten Parfümgeruch wahr.
»Ihre Papiere bitte, Mister!«
Sheen Mund klappte wieder zu. Dabei lachte er unwillkürlich leise auf. Schließlich hob er die Schultern und suchte in den Innentaschen seiner Jacke nach, obwohl er wußte, daß die Unterlagen dort nicht steckten. Er wollte einfach noch eine gewisse Zeit gewinnen und sich überlegen, was er tat, wenn diese Kathrin Dill merkte, daß er etwas getrunken hatte.
Während der Sucherei und während er auch vor sich hinmurmelte, warf er ihr hin und wieder einen verstohlenen Blick zu, von der er hoffte, daß sie ihn nicht merkte. Jetzt kam ihm das Gesicht der Person nicht mehr so weich vor. Er sah durchaus die harten Züge und glaubte auch, in den Augen ein hartes Lauern zu sehen.
»Soll ich Ihnen bei der Suche helfen, Mister?«
»Nein, nein, das schaffe ich schon, keine Sorge. Ich bin nur eben überrascht, wissen Sie. Ich habe nämlich keine Kontrolle in dieser Umgebung erwartet.«
»Ich weiß. So denken viele. Aber wenn Sie nichts zu befürchten haben, ist das doch egal – oder?«
»Klar, da haben Sie recht. Habe ich auch nicht. Moment mal, da sind Sie, Konstabler.« Er zog die Brieftasche aus der rechten Hosentasche hervor. Sie war schon abgegriffen und brauchte nur aufgeklappt zu werden, um den Inhalt freizulegen.
»Bitte«, sagte er und reichte die Brieftasche durch die offene Scheibe.
Die Polizistin nahm sie danken entgegen. Sie trat etwas zurück und richtete sich auf. Um die Eintragungen zu überprüfen, brauchte sie nicht einmal in den Lichtschein der Scheinwerfer zu gehen. Die Helligkeit hier reichte ihr aus.
Kathrin Dill kontrollierte sehr gewissenhaft. Sheen hatte den Eindruck, als wollte sie ihn bewußt länger warten lassen, aber er hielt den Mund, denn er wollte nichts provozieren.
Natürlich kam ihm die Zeit viel länger vor. Er ärgerte sich auch über die Schweißtropfen, die an seinem Gesicht entlangrannen und spürte die Nässe auch an seinem Körper und auf den Innenflächen der Hände.
Sie nickte.
Eddie atmete auf. Ein gutes Zeichen? Noch war er nicht sicher.
Erst als sich die Beamtin herumdrehte und ihm die Brieftasche wieder entgegenstreckte, atmete er auf. Hastig nahm er sie an sich und ließ sie jetzt in der rechten Innentasche seiner zerknautschten Jacke verschwinden. »Ist alles in Ordnung, Konstabler?«
»Da schon.«
»Dann kann ich ja fahren.« Seine linke Hand bewegte sich schon auf den Zündschlüssel zu, als der Griff durch ein hart klingendes »Nein« gestoppt wurde.
»Nicht?« fragte er.
Kathrin Dill nickte. »So ist es.«
»Warum nicht?«
Sie beugte sich wieder vor und lächelte. »Können Sie sich selbst eigentlich noch riechen?« fragte sie wie nebenbei.
»Was meinen Sie damit?«
»Ihr Atem, Mr. Sheen.« Kathrin schnickte mit den Fingern. »Ich würde auf Gin oder Bier tippen. Vielleicht auch beides. Im Laufe der Zeit bekommt man da seine Erfahrungen. Um ganz sicherzugehen, muß ich sie leider bitten, auszusteigen, damit ich einen Test machen kann. Sie verstehen schon.«
Sheen blieb trotzdem sitzen. Er versuchte er mit Humor und lachte. »Hören Sie, Konstabler. Ich gebe ja zu, daß ich etwas getrunken habe, aber ich bin nicht betrunken. Ich habe einen Freund besucht. Ein Gläschen in Ehren kann keiner verwehren.«
»Da gebe ich Ihnen recht, Mr. Sheen.«
»Na bitte.«
Die nächste Antwort ließ seine Hoffnung zusammenbrechen. »Nur hätten Sie dann auch bei Ihrem Freund übernachten sollen. Das wäre wirklich besser gewesen.«
»Klar, wenn ich richtig gesoffen hätte.«
»Ach! Und das haben Sie nicht?«
»Nein.«
»Ich rieche eher das Gegenteil.«
»Aber ich…«
»Steigen Sie aus, Mr. Sheen!« Kathrin Dill blieb unerbittlich. Sie hatte ihre Erfahrungen sammeln können und kannte auch ihre Pappenheimer. So wie Sheen benahmen sich die meisten, wenn sie etwas zu verbergen hatten, und der Fahrer hob schicksalsergeben seine Schultern, bevor er die Tür aufdrückte.
Er dachte darüber nach, wie er sich aus dieser Lage herauswinden sollte. Schließlich mußte er noch nach Hause und wollte die vielen Kilometer
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