1029 - Evitas Folterkammer
verfremdete.
Victor wunderte sich. Was sie getan hatte, war bei ihren bisherigen Besuchen noch nie passiert. Nach der »Fütterung« hatte sie bisher rasch die Tasche aufgenommen und war verschwunden. Gruß- und auch wortlos. Nun aber blieb sie, und sie hatte zudem etwas aus ihrer Tasche geholt. Vielleicht noch ein Stück Kette, denn so ähnlich hatte sich das Geräusch angehört.
Sie drehte sich wieder. Beide Arme hielt sie angewinkelt und hatte ihre Hände um den Gegenstand gelegt.
Der Gefangene hielt den Atem an, als er sah, was diese Evita bei sich trug.
Es war ein Messer – oder?
Nein, nicht genau. Zwar ein Messer, doch zugleich auch etwas anders, ein Kreuz…
***
Victor wußte nicht, was er bei diesem Anblick denken sollte. Er konnte sich ein Kreuz einfach nicht in der Hand dieser Person vorstellen, das paßte einfach nicht zu ihr. Da kam es ihr schon mehr entgegen, wenn sie den Gegenstand als Messer ansah. Als Waffe mit einer sehr langen und dünnen Spitze.
Scharf, gefährlich – tödlich…
Der Mönch hielt den Atem an. Am liebsten hätte er auch seine Gedanken aus dem Kopf vertrieben. Das war nicht möglich. Er sah nur diese Waffe, halb Kreuz und halb Messer.
Die Frau lächelte böse. Sie streckte die Arme vor, so daß der Gefangene die lange Spitze direkt vor seinem Gesicht sah. Dahinter war das Gesicht der Evita, und deren Mund hatte sich zu einem breiten Lächeln verzogen.
Es war ein Lächeln, wie man es nicht mögen konnte. Widerlich und wissend zugleich. Nicht echt, nicht freundlich, eher kalt und abgebrüht. In den Augen lag ebenfalls ein harter Glanz, über den zudem noch der Widerschein des Feuers huschte.
»Was soll das?« Der Mönch rang sich die Frage ab. »Warum hast du das Messer gezogen? Willst du mich töten?«
Evita schwieg. Sie kannte die Regeln. Ihr Schweigen würde bei diesem Mann für noch mehr Angst sorgen, das war ihr klar. Auch in den nächsten Minuten würde sie kein einziges Wort sagen, sondern einfach nur handeln und ihre Pläne in die Tat umsetzen.
Sie drehte dem Gefangenen den Rücken zu. Er allerdings konnte von seinem Platz aus genau sehen, was sie vorhatte. Mit langsamen Schritten näherte sich Evita dem Fackelfeuer. Für einen Moment blieb sie nachdenklich stehen. Ihr Blick tauchte in die heiße Zunge ein, dann bewegte sie die Klinge auf die Hitzequelle zu und hielt sie in die Flamme hinein. Sie ließ das Metall heiß werden. Sie würde es zum Glühen bringen und brauchte dabei nicht zu befürchten, daß ihr die Hitze die Hände verbrannte, denn der Griff des Kreuzmessers war isoliert worden.
Zu dem Gefangenen stand sie in einem leicht schrägen Winkel, so daß er alles mitbekam. Victor war nicht dumm. Auch wenn es ihn persönlich anging und er am liebsten nicht über gewisse Dinge nachdenken wollte, konnte er einfach nicht anders als hinschauen.
Er schaute sogar zu, wie sich das Metall veränderte und rot wurde.
Eine glühende breite Nadel. Fast wie ein Brandzeichen, das auf die menschliche Haut treffen würde.
Der Gefangene sagte nichts. Er stöhnte und jammerte nicht. Er konnte auch nicht mehr beten und wunderte sich darüber, daß sein Körper noch Schweiß produzierte.
Zu ihm kehrte die Angst zurück. Die direkte und schlichte Angst.
Und die Angst vor den Schmerzen, möglicherweise sogar vor einem schrecklichen Tod.
Er konnte nichts tun. Die Ketten hielten ihn fest. Sein Spielraum war eingeschränkt. Zwar hatte man die Beine nicht angebunden, doch auch sie waren mittlerweile so schwer geworden, daß er sie kaum vom Boden anheben konnte.
Die Furcht war dicht wie Watte, die man in den offenen Mund und in den Hals gestopft hatte. Victor erkannte, daß er sich weder als harter Held noch zum Märtyrer eignete. Er war einfach ein ganz normaler Mensch mit großer Angst vor den Schmerzen.
Evita drehte sich wieder um. Das Messer hielt sie fest. Die Spitze glühte jetzt, als wäre sie rot angestrichen worden. Halbhoch hielt sie die heiße Waffe, umflackert vom tanzenden Schein der Flammen.
Das Fackelfeuer beherrschte die Szenerie. Es machte sie schaurig wie ein Filmsequenz, in deren Mittelpunkt eine Frau als weiblicher Folterknecht stand.
Es war dumm, Victor wußte es. Dennoch fragte er: »Was hast du mit mir vor?«
»Kannst du dir das nicht denken?« flüsterte sie.
»Du willst mich töten, nicht?«
Evita schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde dich nicht töten. Zumindest jetzt noch nicht. Aber ich möchte dich noch einmal daran erinnern, wo du dich
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