1029 - Evitas Folterkammer
ergehen lassen können. Das jedoch kam ihm an diesem Tag oder in dieser Nacht nicht in den Sinn.
Er spürte, daß es bei diesem Besuch anders verlaufen würde, als bei allen anderen zuvor. Einen Grund dafür konnte er nicht angeben. Es war einfach das Gefühl, das in ihm steckte.
Evita hatte aus der Tasche eine Dose mit Wasser geholt. Sie riß die Lasche auf. Das dabei entstehende Zischen erinnerte Victor wieder an seinen brennenden Durst, und er stöhnte leise auf, was die Frau zu einem kalten Lächeln veranlaßte. Sie schien seine Qual genießen zu wollen, denn sie wartete damit, die Flüssigkeit in einen Becher zu kippen. Schließlich erbarmte sie sich doch und füllte den Becher beinahe bis zum Rand mit dem kalten Getränk.
Sie trat an Victor heran. »Man ist ja kein Unmensch«, sagte sie flüsternd. Mit einer routinierten Bewegung setzte sie den Rand des Bechers an die Lippen des Gefangenen und kippte ihn an.
Victor hörte sich stöhnen. Nicht nur aus Erleichterung, weil er etwas zu trinken bekam, nein, er stöhnte auch, weil er sich gedemütigt fühlte. Er war gefangen. Aus eigener Kraft würde er sich nicht befreien können, alles lag in der Hand dieser Person, die mit ihm abrechnen wollte und deren Motiv er nicht kannte.
Er mußte trinken, wenn er nicht austrocknen und verdursten wollte. Er öffnete den Mund weit. Das frische Wasser floß hinein. Es kühlte, es war einfach wunderbar, es perlte in seinem Mund, dann weiter hinein in die Kehle und glitt hinunter in den Magen. Er trank und dachte dabei an nichts anderes. Er war der Schwamm, ausgetrocknet und porös, der sich erst jetzt mit Wasser füllte.
Der Becher war schnell leer. Für Victor war das Wasser nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen. Er wollte mehr, doch er traute sich nicht, es der Frau zu sagen. Sie allerdings entdeckte den Wunsch in seinen Augen und lächelte.
»Noch einen Becher?«
»Ja«, flüsterte er. »Ich brauche Wasser.«
Evita stand vor ihm und drehte das leere Gefäß zwischen ihren Handflächen. »Hast du auch Hunger?«
»Nicht so sehr.«
»Ich habe dir Kekse mitgebracht, Victor.«
»Erst noch Wasser.«
»Bitte.« Sie leerte den Rest der Dose und bekam den Becher beinahe wieder voll. Victor trank. Es war ihm egal, ob er sich dabei vor dieser Person erniedrigte oder nicht. Er wollte einfach das Wasser in seinem Körper spüren. Er wollte den Kraftstrom durch sein Inneres laufen lassen. Er als Schwamm wollte keine trockene Stelle mehr haben. Bis auf den letzten Tropfen leerte er den Becher, und wieder schaute ihm die Frau dabei zu. Zudem packte sie einige Kekse aus.
Sie fütterte den Mönch wie eine Mutter ihr kleines Kind, und auch darüber wollte Victor nicht nachdenken und einfach alles hinnehmen. Die Kekse waren mit einer dünnen Schicht aus Schokolade überzogen. Er aß sie, und das Zeug schmeckte ihm sogar, obwohl er sich sonst nicht viel daraus machte.
Der Durst war noch längst nicht gelöscht. Victor spürte ihn wie einen Druck in seiner Kehle. In den Augen des Mannes las Evita die Bitte, und sie schüttelte den Kopf. »Das muß reichen!« erklärte sie mit fester Stimme.
Obwohl Victor enttäuscht war, nickte er. »Ja – gut«, fügte er hinzu.
»Es soll reichen. Es muß ja. Ich weiß nur nicht, was ich getan habe. Warum muß ich diese Qual auf mich nehmen? Was habe ich getan, um derart büßen zu müssen?«
Evita erwiderte nichts. Sie hob nur die Schultern. »Du bist eben ein besonderer Mensch. Man kann dich als einen Katalysator bezeichnen für gewisse Vorgänge, die zur Vergangenheit zählen. Mehr brauchst du nicht zu wissen.«
Victor leckte letzte Krümel und Tropfen von seinen rauhen Lippen ab. »Wie lange soll ich denn hier noch bleiben?« fragte er. »Was willst du von mir?«
»Später.«
»Bitte, ich…«
Die Frau trat einen schnellen Schritt nach vorn, und Victor verstummte auf der Stelle. »Keine Fragen mehr. Keine Worte. Verstanden?«
»Ist schon gut.«
»Okay«, sagte sie. »Dann können wir ja weitermachen.« Sie bückte sich und holte etwas aus der offenen Tasche hervor, das der Gefangene nicht erkennen konnte. Nur als Evita den Gegenstand auf den Boden legte, erklang ein helles Geräusch.
Den leeren Becher und die Kekse packte die Frau wieder ein. Die Tasche ließ sie offen. Gebückt griff sie nach dem zuletzt hervorgeholten Gegenstand und richtet sich wieder auf. Bei ihrer Drehung geriet sie deutlicher in das Wechselspiel zwischen Licht und Schatten, das ihre gesamte Gestalt
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