103 - Panoptikum der Geister
...“
„Das ist
verständlich, Edward. Wenn man zum ersten Mal mit einer Sache konfrontiert
wird, die man nie für möglich gehalten hat, zweifelt man zunächst mal an seinem
Verstand. Monster, Schwarze Magie, Spuk, Vampire, Wiedergänger und Zombies sind
interessant und vermitteln uns allen ein Gefühl von Schauer und Gänsehaut, wenn
sie im Roman oder Film Vorkommen. Der Gedanke, dass es so etwas auch wirklich
geben könnte, entwickelt sich höchstens mal im Hinterstübchen, wird aber dann
nicht mehr ganz ernst genommen. Bis der Moment im Leben eines Menschen kommt,
da Dracula oder einer seiner Nachboten persönlich vor der Haustür steht...“
„So ähnlich
war meine Erfahrung mit dem Unwirklichen und Unfassbaren“, gestand Edward
Higgins. Damals hatte er zum ersten Mal von der geheimnisvollen
Spezialorganisation PSA gehört. Seit jenen Tagen war er einer der intensivsten
und aufmerksamsten Mitarbeiter. Sobald in einem Fall, der auf seinem
Schreibtisch landete, ein undurchschaubarer Faktor erkennbar war, gab er der
PSA einen persönlichen Hinweis. Bei den meisten Behörden würde die Meldung ohne
eine zusätzliche Stellungnahme per Fernschreiber weitergegeben. Das war
immerhin schon ein Fortschritt.
Die beiden
Hauptcomputer der PSA speicherten Hunderttausende von Fällen und verglichen sie
mit Ereignissen, die früher möglicherweise schon mal in Erscheinung traten, die
Menschen in Angst und Schrecken versetzten und sogar in den Tod trieben. Dinge,
die man woanders nicht mehr bearbeiten konnte, weil die Mitarbeiter eine
falsche Einstellung dazu hatten oder gar nicht auf die Idee kamen, dass sich
etwas Außergewöhnliches dahinter verbarg, waren das Betätigungsfeld der Frauen
und Männer, die ihr Leben in den Dienst der PSA stellten. Und damit in den
Dienst der Menschheit, was als feine Gravur in der massivgoldenen Weltkugel
stand. Morna trug den Miniatur-Globus als Anhänger an einem Armkettchen. Er
enthielt eine komplizierte, vollwertige Sende- und Empfangsanlage, mit der die
PSA- Agentin von jedem Punkt der Erde aus über Satellitenfunk mit der Zentrale
in New York Kontakt aufnehmen oder Anweisungen von dort entgegennehmen konnte.
„Dracula
konnte seinerzeit vernichtet werden“, erwiderte die hübsche Schwedin auf
Higgins' Bemerkung. „Jedenfalls sind wir der festen Ansicht. Wie Leila Shelton
aussieht, gibt es allerdings keinen Zweifel daran, dass sie eine ungewöhnliche
und schreckliche Begegnung hatte. Der Biss stammt von einem Vampir. Ich habe
auch einen Verdacht...“
„Welchen,
Morna?“
„Bei diesem
Überfall könnte der Geflügelte Tod dahinterstecken. Und der wiederum hat mit
der Familie der Crowdens zu tun.“
Der Name
Crowden war Higgins ein Begriff. Vor einiger Zeit kam es im westlichen Teil
Englands zu Ereignissen, die die PSA in Atem hielten. Die Crowdens waren eine
Familie, die ihr Leben in den Dienst der Hölle und ihrer Dämonen gestellt
hatte. Das war schon gefährlich genug. Aber es war noch nicht alles. In ferner
Vergangenheit kam ein Crowden auf die Idee, den Eingang in die Welt der
Finsternis zu suchen. Er fand das Tor in die Welt der Dämonensonne. Wer sie
anschaute, dem brannte sie die Augen aus. So geschah es. Seither hatten alle Neugeborenen
der Crowdens leere Augenhöhlen. Die Familienmitglieder, die vermutlich überall
in der Welt verbreitet waren, konnte man durch diese Mutation nicht mehr als
normale Menschen bezeichnen. Ihre Blicke aus den leeren Augen waren seither
tödlich. Die Kraft der schwarzen Sonne strahlte aus ihnen und brannte den
unglücklichen Opfern die Augen aus. Die Crowdens, das hatte man inzwischen
herausgefunden, tarnten ihre Mordaugen durch dunkelgetönte Brillen und
Glasaugen, die sie einsetzten. Das braunschwarze Fledermaus-Mal an der Schläfe
der toten Leila Shelton war ein untrüglicher Beweis dafür, dass direkt oder
indirekt die Sekretärin mit einer Person aus dem Crowden-Milieu
zusammengetroffen war. „Ich muss alles über sie wissen, und zwar so schnell wie
möglich“, sagte Morna ernst, als sie sich erhob. „Wer waren ihre Freunde und
Bekannten? Mit wem verkehrte sie? Was für ein Leben führte sie?“
„Sie war sehr
einsam, kannte nur ihren Beruf und war eine große Musikliebhaberin“, antwortete
Edward Higgins. „Von Freunden und Freundinnen ist uns bisher nichts bekannt
geworden, aber wir recherchieren weiter.“ Fest stand, dass Leila Shelton in
ihrer Wohnung überfallen wurde. Weder an Türen noch an Fenstern gab es
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