103 - Panoptikum der Geister
Hand ein brennender Schmerz, als ihre Gelenke hart auf das
unnachgiebige Wachs knallten. Der massige Kerl veränderte seine Stellung um
keinen Millimeter. Hunter warf sich auf Miriam Brent und verfehlte sie um
Haaresbreite, weil die junge Frau geschickt unter den zugreifenden Händen
wegtauchte. Bei der schnellen Bewegung verlor Miriam jedoch die Balance und
stürzte zu Boden. Geistesgegenwärtig wollte die dunkelhaarige Schauspielerin,
die nicht ahnte, dass ihr Bruder nur rund fünfzig Meter entfernt in eine
ähnlich unglaubliche Auseinandersetzung mit lebenden Wachsfiguren verwickelt
war, sich noch an einer anderen Gestalt festkrallen. Das ging schief. Die
Wachspuppe verlor den Halt und kippte seitlich weg. Mit dumpfem Krachen knallte
sie auf den Boden. Die Arme knickten weg wie Streichhölzer, und der Kopf
kullerte gegen einen Mauervorsprung und blieb dort zerdrückt liegen. Miriam
Brent rutschte herum. Hunter setzte ihr nach. Die Schauspielerin, die in London
die erste größere Filmrolle übernehmen sollte, konnte nur nach einer Seite hin
ausweichen. Das war der Durchgang in die Kammer, in die Leonhard M. Kelly
vorhin mit dem Besitzer des Wachsfigurenkabinetts verschwunden war. Es war eine
Kammer, in der unheimliche Tänzer und Totenbeschwörer aus Afrika und Haiti
dargestellt waren. Dämonenmasken bedeckten die Gesichter der Eingeborenen, die
Umgebung war als Lichtung inmitten eines Urwaldes dekoriert. Vor einem
buntbemalten und reich mit Federn verzierten Totempfahl hockten im
Schneidersitz drei furchteinflößend maskierte Priester, die offensichtlich ein
Ritual demonstrierten ... mitten unter ihnen, starr und reglos, Leonhard M.
Kelly, in seinem Herzen steckte eine fingerdicke, mehr als einen Meter lange
Nadel. Offenbar war die Spitze vergiftet gewesen. Kelly war lautlos gestorben.
Miriam Brent schrie gellend auf. Ihr Schrei hallte schaurig durch die Kabinette
des Panoptikums. Larrys Schwester lief los, als wären Furien hinter ihr her.
Zurück konnte sie nicht mehr, denn Hunter verfolgte sie. Blieb ihr nur die
Flucht nach vom. Da war zum Glück ein Korridor, wo die Eingänge anderer
Kabinette mündeten. Brandgeruch lag in der Luft. Dünne blaue Rauchschwaden
zogen durch die weiter hinten liegenden Kammern. Irgendwo in dieser Gegend
brannte es. Der Rauch wurde ätzend und biss in ihre Augen. Miriam musste
husten. Der Rauch quoll ihr vom Ende des Korridors entgegen. Dahinter spielte
sich ebenfalls ein Kampf auf Leben und Tod ab. Das aber sah Miriam nicht. Sie
gewahrte nur den dunklen Rauchvorhang und die großen, sich bewegenden Fackeln.
Menschen, die brannten? Nein, Wachsfiguren! Sie lösten sich in ihre Einzelteile
auf, zerbrachen und bildeten brennende Lachen auf dem Boden.
Einrichtungsgegenstände, Vorhänge und dünne Abtrennwände zwischen den einzelnen
Kabinetten fingen Feuer und zerstoben fauchend in Hitze und Glut. Miriam Brent
sah kämpfende Schatten, einen Mann, der hinter der Flammenwand eingeschlossen
war. Die junge Amerikanerin machte auf dem Absatz kehrt. Aus einem Kabinett, in
dem ebenfalls durch Funkenflug Feuer ausgebrochen war, taumelte eine Wachsfigur
auf sie zu. Gestalten, die bis zur Stunde kalt und ohne Leben waren, erwachten
zu gespenstischem, unwirklichem Dasein. Die Flüchtende begriff es nicht. Sie
kannte nicht die Hintergründe. Aber Larry Brent, der jenseits der fauchenden
Feuerwand agierte und verzweifelt nach einem Ausweg suchte, begann etwas zu
ahnen. Seelentausch! Die Wächsernen, die der Hitze zum Opfer fielen, vergingen.
Der unselige Geist aber, der in ihnen wirkte, fuhr in andere Wachsfiguren, die
bisher ohne Leben waren. Wurden auch sie ein Raub des schnell um sich
greifenden Brandes, verließen die ruhelosen Geister auch diesen Wirtskörper und
fuhren in einen neuen. Die inzwischen aufgeheizte Luft machte den Wachsfiguren
zu schaffen. Auf der Oberfläche des Materials entstanden große Tropfen, die an
Schweiß erinnerten. Das Material zersetzte sich, tropfte zäh zu Boden und wurde
vom nächsten, heranfliegenden Funken oder einem heranwehenden brennenden Stück Stoff
oder Holz in Brand gesetzt. Schreiend lief Miriam Brent den Weg zurück, den sie
gekommen war. Sie zog den Kopf ein, ihre Augen tränten, und sie suchte
verzweifelt nach dem Ausgang. George Hunter war offensichtlich untergetaucht,
verfolgte sie nicht mehr. Vielleicht war er auch der Meinung, dass die
Besucherin seines Kabinetts inzwischen in dem Flammeninferno umgekommen war.
Von irgendwoher spürte Miriam
Weitere Kostenlose Bücher