103 - Panoptikum der Geister
Erst mit
meinem Leben in diesem neuen Körper sind jene Dinge wieder an die Oberfläche
meines Bewusstseins gekommen, die aus einem anderen Dasein stammen und die ich
längst vergessen hatte. Ich habe dieses unterirdische Verlies wieder entdeckt.
Es ist doch seltsam, nicht wahr“, setzte er seinen Monolog fort, „dass manchmal
im Leben erst bestimmte, unerwartete Ereignisse eintreten müssen, um das, was
verschüttet war, wieder an die Oberfläche zu befördern. Schon immer habe ich
mich in den Augen anderer Menschen seltsam und komisch verhalten. Ernst
genommen haben sie mich nie. Ich war stets ein Außenseiter und bin meinen
eigenen Vorstellungen vom Leben gefolgt. Warum hat es mich in die Ruine
gezogen? Nie konnte ich die Frage klar und eindeutig beantworten. Ich sagte,
dass ich mich gern dort aufhalte, ohne einen Grund angeben zu können. Schon
früh hatte ich den Gedanken etwas Ungewöhnliches zu schaffen. Ich begann als
Junge mit dem Modellieren von Wachsfiguren. Später wurden sie dann größer.
Seltsamerweise, darüber wunderten sich schon meine Eltern und mein Großvater,
nahm ich mir für meine Arbeiten niemals Vorbilder aus unserem Bekannten- und
Verwandtenkreis. Ich erfand stets seltsame Gestalten, die jedoch lebensecht
wirkten und eigene Charaktere darstellten, dass man sich wunderte, woher ich
die Phantasie nahm. Aber es war keine Phantasie! Ich habe seit eh und je nur
Personen nachgebildet, die der Wirklichkeit entspringen und die ich aus meinem
früheren Dasein als Quentin, der Hexenwürger, kannte. Doch damals wusste ich
das nicht und schrieb mein Interesse an abstrusen Menschen und Sonderlingen
meiner ganz persönlichen Veranlagung zu. Ich entdeckte in den Mördern und Irren
etwas, das andere nicht sahen und ich wie kein Zweiter herauszuarbeiten
verstand. Seit der letzten Nacht weiß ich warum. Ich bin George Hunter und bin
es doch nicht mehr! Ich bin Quentin, der Hexenwürger ... Rund dreihundert Jahre
liegt es zurück, in denen ich immer und immer wiedergeboren wurde, ohne meine
wahre Bestimmung zu erkennen.
Rund dreihundert
Jahre, Janette, liegt auch die Szene zurück, die ich in dem Gewölbe unter den
Verliesen des Castles einst als Quentin geschaffen habe. Damals hast du mich
verflucht. Und im Moment deines Sterbens, als ich dir noch prophezeite, dass
ich dich mit bloßen Händen erwürgen und deine Leiche dann verbrennen würde,
hast du herausgeschrien, dass ich die Fackel, mit der ich deinen Reisigstoß
entzünden würde, nie mehr loslassen könnte. Ihr Schein sollte nie erlöschen,
und an dem Tag, an dem sich unsere Wege erneut kreuzen, wird ihre Flamme mich
vernichten.“ Er lachte hohl nach diesen Worten. Dann fuhr er fort in seinem
gespenstischen Monolog. „Du wirst mich nie finden. Ich habe meine ehemalige
Identität wiederentdeckt, du aber, Janette, offenbar noch nicht. Sieh her,
vielleicht erinnerst du dich an diese Hände.“ Und mit diesen Worten nahm er die
Wachsglieder unter seinem Arm vor und streckte sie der Dargestellten entgegen.
Die Hände waren geformt wie Klauen, als wollten sie sich im nächsten Moment um
die Kehle der Wachsfigur legen. Morna hatte diese Gedanken unwillkürlich, und
als es dann eintrat, schrie sie fast auf vor Entsetzen. Die schrecklichen Hände
des einstigen Hexenwürgers, nachgebildet in Wachs, führten plötzlich ein
Eigenleben. Die Finger spreizten sich und umschlossen den Hals der an einem
Pfahl Festgebundenen. Die Schwedin schluckte heftig, und ihre Hände schlossen
sich zu Fäusten. George Hunter war der Besitzer eines absonderlichen
Wachsfiguren-Panoptikums in einem Haus, das etwa drei Meilen von der Behausung
Leila Sheltons' entfernt lag. Morna hatte von dem Kabinett erfahren, ohne
diesem jedoch eine Bedeutung beizumessen. Nun zeigte sich, dass dies
offensichtlich ein Irrtum war. Sie selbst war in dieses Kabinett versetzt
worden. Hier liefen dämonische Fäden zusammen, die sie jedoch noch immer nicht
entwirren konnte. Hunter in einem ersten Leben als Hexenjäger? Damals nannte er
sich Quentin ...
Gab es
zwischen Hunter/Quentin, dem Tod der Sekretärin Leila Shelton, dem Sturz ihres
Hauses und dem blutsaugenden Geflügelten Tod eine direkte Verbindung? Diese
Kardinalfrage konnte unter Umständen über ihr weiteres Schicksal entscheiden.
Es gab jedoch noch eine andere Frage. Sie betraf Morna Ulbrandson und den
eigenartigen Inhaber des Panoptikums. Wusste er von der Anwesenheit der nackten
Agentin? Es schien, als könne der Mann, dessen
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