1037 - Zurück aus dem Jenseits
Leim getaucht, als sie auf der Bank im Flur des Krankenhauses saß, in das sie ihren Freund Harry gefahren hatte. Ihr Herz schlug schnell und kräftig. Bei jedem Schlag spürte sie das Echo im Kopf und wurde dabei den Eindruck nicht los, als wäre das nicht mehr sichtbare Auge hinter ihrer Stirn dabei, zu vibrieren. Leichte Kopfschmerzen quälten sie, eine Gänsehaut lag auf ihren Armen, und sie starrte die kahle Wand gegenüber an, ohne sie eigentlich richtig zu sehen.
Immer wieder lief die letzte halbe Stunde wie ein Film vor ihren Augen ab. Sie war gefahren wie eine Selbstmörderin und mußte ihm nachhinein zugeben, viel Glück gehabt zu haben. Es hätte auch alles anders kommen können. Ein Crash mit einem anderen Fahrzeug an irgendeiner Kreuzung. Gegenverkehr beim Überholen, das Herausgetragen werden aus einer der zahlreichen Kurven – all das war nicht passiert. Da hatte der Schutzengel beide Flügel ausgebreitet, um sie ans Ziel kommen zu lassen. Aber war sie tatsächlich am Ziel?
Nein, noch längst nicht. Durch Harrys Verletzung war sie aus dem eigentlichen Spiel gebracht worden. Sie konnte sich nicht mehr um Jamina und die verdammte Hexe kümmern. Beiden war es jetzt möglich, etwas zu tun und zu lassen, was sie wollten. Es gab keine Chance, und das wiederum machte sie so hilflos.
Andererseits war es ihr unmöglich, Harry im Stich zu lassen. Sie mußte einfach wissen, ob es den Ärzten gelang, sein Augenlicht zu retten. Wenn nicht, wäre dies einer Katastrophe gleichgekommen, an deren Folgen sie nicht denken wollte.
So saß sie auf dieser gepolsterten Bank in einer ansonsten leeren Besucherecke des Krankenhauses und wartete.
Sie hoffte.
Man hatte ihr versprochen, alles zu tun. Es gab hier Spezialisten, die Meister auf ihrem Gebiet waren. Darauf setzte sie ihre Hoffnungen. Sitzenbleiben war ihr nicht mehr möglich. Sie ging auf und ab.
Mal blieb sie vor dem Fenster stehen, um auf die herrliche Bergwelt schauen zu können, die Dagmar allerdings kaum wahrnahm. Ihre Gedanken drehten sich einfach zu sehr um Harry Stahl, da war alles andere zweitrangig geworden. Sogar Jamina und die verdammte Psychonauten-Hexe, die es tatsächlich geschafft hatte, das Jenseits zu überwinden.
Auch von John Sinclair hatte sie nichts gehört. Sie konnte nur hoffen, daß er es geschafft und sich bereits auf die Spur gesetzt hatte.
Harry hatte ihn so gut wie möglich eingeweiht, aber festlegen wollte sie sich auch nicht.
Gefärbtes Laub flatterte an der Scheibe vorbei nach unten. Der Wind trug es, spielte mit ihm, aber er konnte das Sterben nicht verhindern. Dagmar preßte die Hände zu Fäusten zusammen. An das Sterben wollte sie nicht denken. Es war einfach grauenhaft, denn sie brachte es stets mit ihrem Freund Harry in Verbindung. Ausschließen allerdings konnte sie es nicht.
Auch wenn er dann auf eine andere Art und Weise sterben sollte.
Das Augenlicht zu verlieren, war für ihn mehr als schrecklich, das wußte sie auch.
Als sie Schritte hinter sich hörte, fuhr sie herum. Nein, es war nicht Harry, der über den Gang geführt wurde. Eine Krankenschwester hastete vorbei, warf der wartenden Frau einen knappen Blick zu, sprach sie aber nicht an.
Dagmar schloß für einen Moment die Augen. Sie fuhr mit der flachen Hand über ihr Gesicht und erreichte auch die Stirn. Vom dritten Auge war nichts mehr zu fühlen. Sie wußte nicht, ob sie es jetzt als einen Fluch sehen sollte. Als Segen hatte sie es nie richtig eingestuft, so blieb eigentlich nur der Fluch. Besonders in einer Lage wie dieser hier. Da war nichts zu machen.
Die Schritte der Schwester waren verklungen. Dagmar fand sich wieder in dieser doch freundlichen Umgebung überhaupt nicht zurecht. Sie kümmerte sich nicht um die hellen Bilder mit den Blumenmotiven, und sie hatte auch kein Interesse daran, in irgendwelchen Broschüren und dünnen Zeitschriften zu blättern, die überall herumlagen.
Ihr ging es nur um Harry.
Hatte er es geschafft?
»Mein Gott!« flüsterte sie vor sich hin, »wie lange dauert das denn noch?« Am schlimmsten kam ihr die Ungewißheit vor. So konnte sie nicht sagen, wohin ihr Partner gebracht worden war. Möglicherweise in den OP, wo man sich um ihn kümmerte. Vielleicht untersuchte man ihn auch nur. Das Handeln war ihr aus der Hand genommen worden.
Man hatte ihr allerdings versprochen, die Wahrheit zu sagen. Und das sobald wie möglich. Noch war nicht passiert. Vielleicht kämpften die Ärzte jetzt um Harrys Augenlicht.
Weitere Kostenlose Bücher