1038 - Der Seelen-Kerker
und hob instinktiv einen Arm, den sie erst sinken ließ, als der Abbé sie anlächelte, bevor er sie ansprach. »Pardon, Madame, aber wir suchen einen gewissen Alexandre Capus. Wissen Sie, wo er wohnt?«
»Ganz oben.«
»Merci.«
Wir machten ihr den Weg frei. Sie ging schnell weiter, ohne sich nach uns umzudrehen, und wir schoben uns hinein in den schmalen, alten und auch riechenden Hausflur. Ein jeder von uns mußte den Eindruck haben, in eine andere Welt gekommen zu sein, denn die Frische des Tages war hier verschwunden.
Keiner konnte richtig sagen, wonach es hier roch, es stank einfach.
Eine Mischung der verschiedensten Gerüche, die für unsere Nasen fremd war. Paris gehörte eben zu den multikulturellen Städten.
Natürlich gab es hier keinen Fahrstuhl. Auch keinen dieser alten Gitterfahrstühle, wie man sie oft in französischen Filmen sieht. Wir mußten schon die Treppe hoch und bis auf die vierte Etage gehen.
Der Weg dorthin führte uns ebenfalls durch einen von fremden Gerüchen durchdrungenen Kontinent. In der dritten Etage standen zwei verschleierte Frauen und wisperten miteinander. Als sie uns sahen, huschten sie erschreckt zurück in eine Wohnung.
Am Ziel sahen wir sehr schnell, hinter welcher Tür Capus wohnte.
Mit vier Heftzwecken war das mit seinem Namen beschriftete Pappschild an das Türholz angebracht worden.
Der alte Holzboden zeigte dicke Flecken. In den Ecken ballte sich der Staub zu Kugeln zusammen, und ein schmales Flurfenster war so blind, daß man gut und gern darauf hätte verzichten können, denn es fiel so gut wie kein Licht hindurch. An Putzen hatte hier niemand gedacht.
Der Abbé wollte klopfen, aber Suko hielt ihn zurück, was ihm einen erstaunten Blick einbrachte.
»Nein, laß mich das machen.«
»Warum?«
»Es ist sicherer.«
Der Abbé glaubte es erst, als ich nickte. Dann sprach mich Suko leise an. »Sollen wir klopfen?«
»Laß die Höflichkeitsfloskeln. Geh rein.«
Er tat es noch nicht. »Was ist mit dir? Du siehst nicht gerade gut aus, John.«
»Ich fühle mich auch nicht besonders. Irgendwas stimmt hier nicht und hat sich verändert.«
Suko stand günstiger zur Tür als ich. Er umfaßte die Klinke, und zwei Sekunden später hatte er die Tür nach innen gedrückt. Vor uns lag die Wohnung, die praktisch nur aus einem Zimmer bestand. Dabei interessiere uns die Einrichtung nur am Rande, während wir mit leisen Schritten den Raum betraten. Andere Dinge waren wichtiger, und die ließen uns blaß werden.
Keiner von uns bekam richtig mit, daß die Tür hinter uns wieder zufiel, denn er Anblick auf dem Bett traf uns wie ein schwerer Schock.
Dort lag ein Mann, und er war tot.
»Das ist er«, flüsterte Bloch mit kaum zu verstehender Stimme.
»Das ist Alexandre Capus. Mein Gott…«
Der letzte Kommentar war sicherlich nur abgegeben worden, weil der Mann nicht mehr lebte. Es kam auch darauf an, wie er auf dem Bett lag und was man mit ihm angestellt hatte. Er hatte ein schreckliches Ende gefunden, denn ihm waren nicht nur die Arme verdreht oder gebrochen worden, nein, auch sein Genick…
***
In meinen Magen und in dessen näherer Umgebung hatte ich eine unsichtbare Faust gebohrt, die dafür sorgte, daß ein würgendes Gefühl in meinem Hals hochstieg. Ich war davon überzeugt, daß es Suko und dem Abbé ähnlich erging, denn ihre Gesichter waren dementsprechend bleich geworden.
Bloch hatte als erster das Bett mit dem Toten erreicht. Er schlug ein Kreuzzeichen, senkte den Kopf, und wir sahen, daß aus seinen Augen Tränen rannen.
Dann kümmerte er sich um den Toten, der so krumm dalag, dessen Gesicht uns zugewandt war. In seinen Zügen stand noch das wie festgeschrieben, das er in den letzten Sekunden seines Lebens durchlitten hatte.
Er mußte irrsinnige Schmerzen erlebt haben. Durch die Verzerrung seiner Züge war dies deutlich als Erbe zurückgeblieben, aber es mischte sich auch die Angst darin.
Im glatten Gegensatz dazu mußten die Augen angesehen werden.
Ohne Ausdruck, völlig blaß, leer und tot erinnerten sie an Glasmurmeln, die in die Höhlen gepreßt worden waren.
Der Abbé sprach mit Flüsterstimme ein kurzes Gebet und senkte dabei den Kopf. Dann schaffte er es, die Augen des Toten zu schließen, als könnte er den Anblick nicht mehr ertragen. Mit einer schwerfälligen Bewegung drehte er sich uns zu, und wir entdeckten den Schmerz aber auch die Wut in seinem Gesicht. Hilflos sah es aus, als er die Schultern hob. »Wir sind zu spät gekommen.« Er
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