104 - Leichenparasit des Geflügelten Todes
gebeugt, als sie sich
einem Regal näherte, um einer Kundin eine Schachtel mit einem Medikament
herauszugeben.
Auf dem oberen Abschnitt der Regale standen
noch die alten, braunen Glasbehälter mit den handbeschriebenen Etiketten.
Damals lebte noch der Apotheker. Als der
jungenhaft und freundlich wirkende »Reverend« mit der glattrasierten Haut zum
erstenmal die Apotheke betrat - das war im späten Winter des Jahres 1922 -
konnte der Besitzer nicht ahnen, daß er einem Massenmörder gegenüberstand, der
Chemikalien für seine Drogen und Gifte kaufte. Er glaubte sich einem an der
Chemie interessierten jungen Mann gegenüber, der charmant zu plaudern verstand
und hervorragende Kenntnisse auf diesem Fachgebiet besaß .
Er kannte die Namen und Wirkstoffe von Pflanzen, die nur in Asien und im fernen
China zu finden waren und deren Beschaffung dem alten Apotheker einige
Schwierigkeiten bereitete.
Aber er tat es gem. So wurde sein eigenes
Interesse geweckt und seine Fähigkeit, etwas zu unternehmen, gefördert.
Der Apotheker hieß damals Bernard Chester.
Sein Name stand jetzt noch unter der Bezeichnung »Pharmacy« groß und deutlich.
In dem Moment, als die Kundin die Apotheke
verließ, suchte Terry Whitsome sie auf.
Er grüßte die Davongehende freundlich, war
nicht minder freundlich beim Betreten des Verkaufsraumes.
Die alte Frau, deren fast weißes Haar
gepflegt und geordnet war, lächelte ihm zu.
»Womit kann ich Ihnen dienen, Reverend ?«
» Wenn Sie die M ö glichkeit haben, mit sehr vielem, Madam. Mein
Hobby sind Heilkr ä uter und
Tees. Ich experimentiere ein wenig mit der Natur, weil ich ü berzeugt davon bin, da ß sie noch viele Geheimnisse birgt und f ü r jedes menschliche Leid ein passendes
Gegenmittel bereit hält. Leider ist es nur so, daß man diese Gegenmittel nicht
kennt. Ich suche einige bestimmte Kräuter .«
Die alte Frau lächelte ihm zu. Matt
schimmerten ihre gleichmäßigen Zähne. Das feingearbeitete goldene Collier, das
sie trug, glänzte im kalten Licht der Neonröhren, von denen drei über der Theke
installiert waren.
»Dann sind Sie hier genau richtig. Ich
unterhalte eine Spezialabteilung. In ganz London finden Sie keine solche
Auswahl wie bei mir. Nennen Sie mir Ihre Wünsche .«
Terry Whitsome nannte einige exotisch
klingende Namen und lateinische Bezeichnungen.
Die alte Frau nickte. »Ihre Wünsche sind
wirklich ausgefallen. Aber wir haben bis auf zwei oder drei Sachen alles da...
Mein Vater war ein großer Freund dieser Dinge. Ich war damals- noch ein Kind,
sechs oder sieben Jahre alt, da kam auch regelmäßig ein Kunde, der spezielle
Kräuter und Tees suchte. Seltsam, daß sich so etwas noch mal wiederholt.« »
Auch Whitsome zeigte sich erstaunt. Er hätte
eine Erklärung für diese Tatsache geben können, aber er wollte nicht.
Er fand schnell heraus, daß die Frau
Margarete Chester hieß, unverheiratet war und nach Beendigung der Schule in die
Fußstapfen ihres Vaters trat.
Sie war über siebzig, noch sehr rüstig und
wollte den Betrieb hier weiterführen, solange es gesundheitlich möglich war.
Was danach kam, interessierte sie wenig.
Whitsome kaufte den kleinsten
Destillations-Apparat"' den er bekommen konnte. Die Apothekerin packte
alles ein und stopfte die Dinge in eine große Plastik-Tragetüte.
»Neutral, ganz ohne Werbeaufdruck«,
verkündete die Frau stolz. »Niemand muß gleich sehen, daß Sie aus meiner
Apotheke kommen und vielleicht krank sind, nicht wahr ?«
Sie schien eine eigene Philosophie entwickelt
zu haben, was Kauf und Verkauf anbelangte und an großen Umsätzen nicht mehr
interessiert zu sein.
Terry Whitsome hatte genügend Geld dabei.
Als er sich entschloß, das Panoptikum zu
verlassen und den Weg zu gehen, den er gezwungenermaßen damals abbrach, stand
von vornherein fest, daß er ohne Geld nicht auskommen würde. So hatte er
welches aus George Hunters Haus mitgenommen.
Er brauchte auch eine Unterkunft. In London
gab es Hotels aller Größen und Preisklassen. Aber sein Aufenthalt sollte nur
von begrenzter Dauer sein.
Terry Whitsome, die lebende Wachspuppe,
erfüllt vom teuflischen Geist eines Frauenmörders, wollte wieder eine eigene
Wohnung im Westend haben.
Er ging hinaus, überquerte wenig später die
Malvern Road dort, wo sie auf die Chippenham Road stieß, schlenderte an der
alten Kirche entlang, die wie eine Insel inmitten der vorbeiführenden Straßen
lag, und erreichte kurz danach die Oakington Road.
Die Häuser, hoch und dunkel,
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