1041 - Der Rächer
nur Mitleid erzeugen, doch daran verschwendete Shannon keinen Gedanken. Auch der Pfarrer, der seine Familie umgebracht hatte, war nicht die Spur von mitleidsvoll gewesen. Im Gegenteil, er hatte noch zugeschaut, und das wollte Shannon auch.
Aber er wollte den Mann auch schreien hören. Er sollte seinen Tod erleben, da war es nicht gut, wenn er bewußtlos blieb. Shannon mußte ihn aufwecken. Er ging über das Grab hinweg. Seine Füße hinterließen Spuren in der weichen Erde, und dicht vor dem Mann blieb er stehen.
Es sah nicht so aus, als würde der Pfarrer in den folgenden Minuten aus seinem Zustand erwachen. Da mußte einfach nachgeholfen werden. Shannon grinste. Nahezu elendig sah der Mann aus. Ein alter Narr, der Zeit seines Lebens auf das falsche Pferd gesetzt hatte.
Da kannte sich Shannon aus. Bei ihm war es nicht anders gewesen.
Auch er hatte Religion in der Schule als Fach gegeben. Er hatte die Kinder viel Gutes lehren wollen und war vom Gegenteil überzeugt worden. Man hatte ihm gezeigt, wie gut das Gute tatsächlich war. Es war ein Pfarrer gewesen, der die Kirche in Brand gesteckt hatte, und der gleiche Pfarrer und Brandstifter hatte Maureen, Linda und Wayne verbrannt.
Shannon stöhnte auf. Seine Gedanken drehten sich wieder um die fürchterlichen Szenen. Noch jetzt hörte er seine Familie schreien.
Ihre Todesangst mußte fürchterlich gewesen sein, viel schlimmer als Patricks seelischer Schmerz.
Es übermannte ihn wieder. Er hatte den Kanister abgestellt, um beide Hände freizuhaben. Die Rechte zuckte vor und zielte dabei auf die Kehle des Gefesselten. Er verspürte plötzlich den dringenden Wunsch, diesen Mann zu erwürgen. Im letzten Augenblick gab er den zugreifenden Fingern eine andere Richtung und faßte in die Wangenhaut des Mannes, die so weich war, und die er zusammendrücken konnte wie die Haut eines Puddings.
»Du alter Hund, du!« keuchte er den Mann an. »Was tust du noch hier? Du hättest längst irgendwohin verschwinden und dich zur Ruhe setzen können. Das hast du nicht getan, und jetzt wirst du büßen, bevor dir noch ähnliche Gedanken kommen wie deinem Kollegen in Blue Ball. Das schwöre ich dir.«
Er ließ die Haut los und schüttelte seine Hand, als wollte er irgendwelche Tropfen abwischen.
Dann nickte er. Er bückte sich. Die Finger umschlossen den Tragegriff des Kanisters. Er war noch geschlossen, und mit der linken Hand wollte Shannon den Deckel aufdrehen.
Da hörte er das Stöhnen. Im ersten Moment glaubte er, ein fremdes Windgeräusch vernommen zu haben, und er schüttelte unwillig den Kopf.
Aber das Stöhnen blieb. Ohne den Kanister geöffnet zu haben, richtete sich Shannon wieder auf und starrte in das Gesicht des Pfarrers, das sich verändert hatte.
Es war wieder so etwas wie Leben in die Züge hineingekommen.
Der Mann hatte den Kopf wieder in die normale Lage gebracht, die Augen geöffnet und schaute nach vorn. Nur zeigte sein Blick noch einen völlig fremden Ausdruck. Zu stark stand er unter dem Eindruck der Bewußtlosigkeit, so daß er es nicht schaffte, mit der Realität zurechtzukommen. Er zwinkerte, rang nach Atem und merkte den Druck der Fesseln kaum.
Shannon kicherte. »Da bist du ja wieder«, sagte er und freute sich.
»Sehr gut, mein Lieber, sehr gut. Es macht mir auch mehr Spaß, wenn du erlebst, was mit dir geschieht. Auch ich habe zuschauen müssen, als meine Familie verbrannte. Verstehst du?«
Der alte Pfarrer gab ihm keine Antwort. Er war einfach nicht in der Lage, etwas zu sagen.
Shannon schlug dem Mann ins Gesicht. »He, hast du mich nicht gehört, Alter?«
Der Kopf pendelte von einer Seite zur anderen. Das Gesicht des Pfarrers zuckte. Shannon ließ den Arm wieder sinken. »Was ist denn? Willst du nicht reden?«
Der alte Mann bewegte seinen Mund. »Ich… was … habe ich getan? Wo bin ich denn?«
»Auf einem Friedhof!«
»Nein, nein.« Qual zeichnete das Gesicht. »Ich kann es nicht sein. Ich muß in mein Haus. Ich werde erwartet. Die kleine Charlene kommt. Ich muß ihr Unterricht geben. Sie soll Weihnachten in der Kirche spielen, und sie will am besten sein.«
»Was redest du da für einen Scheiß?« fuhr Shannon den alten Mann an. »Was erzählst du da für einen Mist?«
»Es stimmt. Ich muß…«
Shannon packte zu und schüttelte den Gefesselten durch. »Weißt du, was du mußt?« keuchte er ihn an. »Du mußt sterben. Ja, du mußt sterben, und ich werde dafür sorgen. Ich werde dich verbrennen, hast du gehört? Ich werde dich
Weitere Kostenlose Bücher