1041 - Der Rächer
hatte den Platz bewußt gewählt, denn hierher würde der Pfarrer kommen.
Nicht weit entfernt breitete sich der Friedhof aus. Shannon spürte seine Nähe. Er konnte den alten Totenacker riechen, aus dessen Erde ein fauliger Geruch stieg. Er stammte nicht von den Leichen, die die alten Gräber verließen, er war der Geruch des Totenmonats November, der Menschen traurig machen konnte.
Lange konnte der Pfarrer nicht wegbleiben. Er würde die Nacht nicht in der Kirche verbringen, und tatsächlich hörte Patrick Shannon die schlurfenden Schritte, deren Echos ihn von der Kirche her erreichten. Er hob den Kopf an und drückte die Mütze etwas zurück. Die Brille mit dem Fensterglas nahm er nicht ab. Starr schaute er nach vorn und wartete darauf, daß der alte Pfarrer erschien.
Er ließ Shannon nicht im Stich. Seine Gestalt schälte sich aus dem Dunst hervor. Er war ein alter, gebeugt gehender Mann, der seine Füße kaum vom Boden bekam. Seine Bewegungen wirkten müde, abgeschlafft, und er strich immer wieder mit einer Hand über sein Gesicht hinweg, als wollte er die Müdigkeit wegwischen. Über seine Soutane hatte er einen grauen Mantel gestreift. Auf dem Kopf trug er das Birett. Seine Hände waren gefaltet, und er wirkte wie tief in ein Gebet versunken, das er nur unterbrach, wenn er über das Gesicht strich. Der Mann kam Patrick vor wie ein alter Automat, und für seine Umwelt hatte der Geistliche keinen Blick.
Er blickte weder nach rechts noch nach links, sondern schaute nur zu Boden, wie jemand, der gehen, aber dabei nur nicht stolpern wollte. Langsam kam er näher. Schließlich blickte er auf.
»Hi«, sagte Shannon.
Er hatte nicht laut gesprochen, doch der Geistliche stand plötzlich auf der Stelle, als wäre er von einem Schlag getroffen worden. Mit Besuch hatte er nicht gerechnet.
Shannon winkte ihm leutselig zu. »Ich habe auf Sie gewartet, mein Bester.«
»So? Warum? Wollen Sie in die Kirche? Wollen Sie beten? Die Messe ist leider vorbei.«
»Ich möchte zu Ihnen.«
»Ja – ähm – Sie sind nicht von hier.«
»Das ist richtig.«
Der alte Mann trat noch einen Schritt näher. »Haben Sie sich vielleicht verlaufen?«
»Nein, das nicht.«
»Sie wollen also etwas von mir?«
»Ja.« Shannon stand auf. Er stöhnte dabei und verzog auch sein Gesicht. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Vorausgesetzt, Sie bringen ein wenig Zeit mit.«
Der Pfarrer überlegte. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Eigentlich hatte ich schon etwas anderes vor. Ich wollte meinen Hunger stillen, etwas essen und auch trinken, aber…«
»Es ist wichtig.«
Der Mann nickte. »Gut. Aber was ist so wichtig?«
Patrick Shannon wußte, daß er gut sein mußte, wollte er den Mann überzeugen. Er reagierte nicht zu überhastet, sondern deutete mit der rechten Hand zum alten Friedhof. »Ich bin dort gewesen, Hochwürden. Eigentlich mehr durch Zufall, weil ich mich hier nicht auskenne. Ich wollte in die Kirche, doch dazu kam es nicht mehr. Ich sah Gestalten auf dem Friedhof und…«
»Moment, junger Mann. Es kommt immer mal vor, daß Menschen die Gräber ihrer Verstorbenen besuchen.«
»Richtig, aber die meine ich nicht.«
»Welche dann?«
»Das waren miese Typen, die…«
»Wieso Typen?«
»Haben Sie noch nie von Kerlen gehört, die nachts auf Friedhöfe gehen und sie schänden? Die Grabsteine umkippen, sie beschmieren und auch Gräber öffnen?«
Der Pfarrer nickte. »Ja, davon habe ich gelesen. Aber so etwas passiert doch nicht hier.«
Patrick Shannon schaffte es, eine traurige Miene aufzusetzen.
»Doch, leider, Hochwürden. Auch Sie sind wohl nicht von diesen Schmierereien verschont geblieben. Da wäre bestimmt noch mehr passiert, aber ich habe sie gestört.«
Der Pfarrer schüttelte den Kopf. Er war durcheinander und wußte nicht, was er sagen sollte. »Und Sie haben sich nicht getäuscht?« fragte er.
»Nein, das habe ich nicht. Es ist zwar dunstig, aber diese Kerle konnte ich erkennen.«
»Ja, gut – hm. Was haben Sie sich gedacht?«
»Nichts weiter, Hochwürden. Ich möchte Ihnen nur zeigen, was dort passiert ist. Sie sollen sich selbst ein Bild machen können. Ich hasse diese Leute nämlich, die keine Ehrfurcht vor den Toten zeigen. Das ist für mich eine Schweinerei.«
»Richtig, da sagen Sie etwas.«
»Kommen Sie mit? Jetzt ist es noch hell.«
Der letzte Satz hatte den Pfarrer überzeugt, denn er nickte ziemlich kräftig. »Gut, dann bringen wir es hinter uns. Wir müssen dann wohl auch die Polizei
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