1043 - Engelkinder
umspielte die Lippen der Vierzehnjährigen. Sie streichelte das Bild. Wahrscheinlich war sie mit ihren Gedanken ganz woanders. Schon im Temple, wo sie auch hinwollte.
Ich stand auf und sprach sie an. »Du willst morgen wirklich losfahren?«
»Klar.«
»Weißt du, wie du hinkommst?«
»Mit dem Zug und dem Bus. Das hat mir Lilian gesagt, obwohl sie mit dem Auto gefahren ist.«
»Hat sie dir viel darüber erzählt?«
»Nein, nur wenig.«
»Warum?«
»Ich weiß es nicht, John. Ich habe auch nicht so intensiv gefragt. Sie ist schon etwas seltsam gewesen. Auf die meisten Fragen hat sie mir keine Antworten gegeben.«
»Dann war sie anders als vor ihrem Besuch in Temple?«
Evita drehte sich um. »Ja, das war sie. Nicht ganz anders, aber schon anders.«
»Aber du hast mehr wissen wollen?«
»Klar, das habe ich. Sie hat sich dagegen gewehrt, und sie hat auch allein bleiben wollen.«
Für mich waren die Informationen des Mädchens sehr interessant. In oder mit Lilian war also eine Veränderung vorgegangen. Es ließ darauf schließen, daß sie etwas erlebt haben mußte. Dieses Erlebnis hatte für eine Veränderung ihrer Einstellung zu den Engelkindern gesorgt.
»Dir hat Lilians Verhalten nicht zu denken gegeben, Evita?«
»Nein, gar nicht.«
»Es könnte gefährlich werden, wenn du Temple besuchst. Ich bin sogar davon überzeugt, daß es gefährlich wird. Deshalb werde ich mit dir fahren.«
»Ach!« staunte sie. »Ach…« Sie wußte plötzlich nicht mehr, wohin sie schauen sollte. »Du willst wirklich mit mir fahren, John? Echt?«
»Na klar, ich kann dich doch nicht allein fahren lassen. Wir werden uns gemeinsam dort umschauen.« Ich hob meine Stimme etwas an. »Am liebsten allerdings wäre es mir, wenn du hier in London bleiben würdest. Man kann nie wissen, was da noch alles passiert. Ungefährlich ist es bestimmt nicht.«
»Aber nicht für mich, John. Bisher ist alles gutgegangen. Das mußt du mir glauben.«
»Dagegen sage ich auch nichts. Aber du bist auch nie direkt mit den anderen in Verbindung gekommen. Das mußt du auch einsehen. Deshalb ist es besser, wenn wir gemeinsam fahren.«
Evita nickte. »Gut, wie du meinst. Das ist dann auch meiner Mutter lieber.«
»Sie arbeitet, nicht?«
»Ja, aber erst später. Jetzt ist sie einkaufen.«
»Wenn sie zurückkommt, werde ich mit ihr reden.«
»Das kann nicht mehr lange dauern. Sie muß sich ja noch für ihren Job umziehen. Du kannst ruhig hier warten.«
»Gern.«
Soweit war alles geregelt. Ich war gespannt auf den kommenden Tag und natürlich auch auf die Engelkinder. Der Name klang so harmlos. Was dahintersteckte, war sicherlich das Gegenteil davon, denn Himmel und Hölle lagen oft verdammt nahe beisammen…
***
Ich habe keine Lust, dachte die Detektivin Jane Collins. Ich habe einfach keine Lust, schon jetzt aufzustehen. Ich werde noch im Bett bleiben und zuschauen, wie es langsam hell wird. Mich treibt keiner, ein neuer Job liegt nicht an, und es tut gut, mal eine Stunde länger im Bett zu bleiben.
Sie redete es sich lange genug ein, damit sie es auch glaubte und ihr leicht schlechtes Gewissen beruhigte. Das quälte sie schon. Während sie im Bett lag, war Sarah Goldwyn, die Horror-Oma, schon längst auf den Beinen. Jane hatte gehört, wie sie die Treppe hinabging, und Sarah war dabei extra laut aufgetreten, um Jane zu wecken. Beide Frauen hatten sich vorgenommen, shopping zu machen. Es sollten einige Geschenke ausgesucht werden, wie jedes Jahr.
Vergnügen bedeutete es nicht, durch das weihnachtlich und oft auch kitschig geschmückte London zu laufen und sich in Geschäften herumzutreiben, wo sie dann nach Geschenken suchten, die im Prinzip keiner brauchte. John Sinclair, Shao, Suko oder auch die Conollys hatten eigentlich alles. So stand Jane dann jedes Jahr vor dem gleichen Problem. Anderen erging es nicht besser.
Die Tür zu ihrem Schlafzimmer stand offen. Lady Sarah war schon unten und bereitete das Frühstück vor. Jane trank gern Kaffee. Es war dessen Duft, der über die Stufen der Treppe hochschlich und auch Janes Nase erreichte.
»Na denn«, sagte sie und richtete sich auf. Sie gähnte noch ausführlich, dann stemmte sie sich in die Höhe, um das Bad anzusteuern. Die Dusche würde auch die letzte Müdigkeit bei ihr vertreiben. Davon ging sie einfach aus.
Für Lady Sarah war das Frühstück so etwas wie eine heilige Handlung. Sie bestand eigentlich immer darauf, daß sie es gemeinsam mit Jane einnahm, und an diesem Morgen hatten sie
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