1043 - Engelkinder
vorbereitet gewesen war, traf es mich wie ein Schlag.
Evita Munoz verlor tatsächlich den Kontakt mit dem Bett und schwebte vor meinen Augen in die Höhe…
***
Plötzlich war es sehr still innerhalb des kleinen Zimmers geworden. Wir hielten beide den Atem an, und ich bemühte mich besonders darum, weil ich diesen Vorgang nicht stören wollte.
Im Lotussitz glitt Evita Munoz hoch, als wäre sie von Fäden gezogen worden. Es war etwas Wunderbares, das sie und ich erlebten, zugleich aber auch etwas Unheimliches und Bedrohliches, denn ich dachte dabei an die tote Lilian.
War sie auch in der Lage gewesen, ihr Eigengewicht zu überwinden und zu schweben? Beim Sturz aus dem Fenster hatte sie diese Fähigkeit nicht eingesetzt, da war sie wie ein Stein gefallen. Für mich wurde der Fall immer undurchsichtiger.
Zunächst konzentrierte ich mich auf Evita. Etwas an ihr hatte sich verändert. Es war der Blick ihrer eigentlich dunklen Augen. Die Pupillen hatten ihre Farbe verloren. In ihnen war ein Glanz zu sehen, den ich schon als überirdisch bezeichnen mußte. Es konnte auch ein Licht sein, das in ihren Augen seinen Platz gefunden hatte. Das Licht einer fremden Welt, möglicherweise von einem Engelreich stammend, doch so genau konnte ich das nicht sagen.
Evita schwebte auch nicht höher. Etwa einen halben Meter über dem Bett kam sie zur Ruhe. Mit ihren hellen Glanzaugen schaute sie an mir vorbei und über mich hinweg.
Ich überlegte, ob es richtig war, sie jetzt anzusprechen. Es bestand durchaus das Risiko, daß ich sie störte, und das hätte bei ihr auch vieles zerstören können. Jedenfalls sah sie aus wie jemand, der nicht ansprechbar war und unter einem fremden Einfluß stand, der wiederum Bilder zu ihr hintransportierte, die möglicherweise nicht von unserer Welt stammten.
Ihr kleiner Mund war leicht geöffnet. Die Wangen schimmerten leicht rötlich, und die Lippen hatten sich zu einem Lächeln verzogen, als würde sie etwas Wunderschönes sehen.
Ich dachte wieder an die Engelkinder. Evita Munoz befand sich auf dem besten Weg, ein Engelkind zu werden. Ganz hatte sie es noch nicht geschafft, aber sie würde weitermachen und schließlich in diesen neuen Zustand hineingleiten.
Positiv oder negativ?
Ich überlegte hin und her, bis mir dann eine Idee kam, die eigentlich sehr naheliegend war. Um herauszufinden, zu welcher Seite sie tendierte, wollte ich mein Kreuz als Tester einsetzen.
Als ich meine Arme anhob, um die Kette am Nacken zu fassen, tat Evita nichts. Sie blieb einfach nur in dieser Höhe sitzen. Sie achtete überhaupt nicht auf mich. Das Kreuz glitt an meiner Brust in die Höhe. Ich merkte ein leichtes Kitzeln, und wenig später konnte ich es aus dem Hemdausschnitt hervorziehen.
Ich legte es auf meine rechte Handfläche. Auch mein Kreuz hatte etwas mit der uralten Engelmystik zu tun, praktisch mit dem Beginn der Zeiten, als die Erzengel sich noch gegen das Böse gestemmt hatten, um den Thron Gottes zu verteidigen.
So stand es geschrieben in den theosophischen Schriften, und ich hatte mich bisher darauf verlassen können.
Auf mein Kreuz und auf die Zeichen der Engel, die sich in den vier Enden abmalten.
Michael, Gabriel, Raphael und Uriel!
Die Anfangsbuchstaben ihrer Namen waren jeweils in das Silber meines Kreuzes eingraviert worden. Schon oft hatte ich sie aufstrahlen und Brücken bilden sehen, an deren Ende die Grenzen der normalen Welt aufgerissen worden waren und mir Einblick gaben in andere Dimensionen, wo die feinstofflichen Gestalten der vier Erzengel wie Wächter standen.
Es war ein Phänomen. Ein nicht erklärbares, doch ein mir gut bekanntes. Es hatte mich schon des öfteren gerettet. Zugleich war mein Kreuz auch der ideale Indikator, der mir anzeigte, wenn etwas Böses in meiner Nähe lauerte.
Ich wunderte mich selbst darüber, daß mir diese Gedanken kamen. Als wären sie fremdgesteuert worden.
Aber es gab einen Grund.
Und der haute mich fast um.
Als ich das Kreuz hochhielt und seine Vorderseite zu Evita hindrehte, um es in ihren Bannkreis zu bringen, da geschah es. Plötzlich veränderten sich die vier Buchstaben an den Enden.
Sie waren nicht mehr so hell. Sie schimmerten nicht. Innerhalb weniger Sekunden schwärzten sie ein, wurden dunkel und dabei auch kalt wie der Tod…
***
Ich saß auf dem Stuhl, war von einer Gänsehaut umfangen und wußte nicht, was ich denken soll.
Das Kreuz mit den schwarzen und kalten Insignien der Erzengel starrte ich an wie einen Fremdkörper,
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