105 - Das indische Tuch
beobachtet?«
»Seit meiner Rückkehr von Indien. Vielleicht auch schon vorher, aber das ist mir nicht aufgefallen.«
»Ist Ihre Mutter davon unterrichtet?«
Der junge Lord zuckte die Schultern.
»Ich kann mir kaum das Gegenteil vorstellen. Auf jeden Fall weiß Amersham davon.«
»Wo ist er jetzt?«
»Gestern abend war er in Marks Priory, aber er fuhr zur Stadt zurück. Meine Mutter erwähnte es heute morgen beim Frühstück, sonst hätte ich überhaupt nichts davon erfahren, daß er bei uns war.«
Tanner machte sich verschiedene Notizen.
»Können Sie mir sagen, wann dieses junge Mädchen in Indien ermordet wurde?«
»Kommen Sie doch nach Marks Priory. Ich kann alle diese Tatsachen dort aus meinen Papieren feststellen. Ich werde Ihnen auch mein Tagebuch zeigen.« Lord Lebanon nahm Hut und Stock auf. »Sie können Amersham mitteilen, was ich Ihnen erzählt habe, aber natürlich wäre es mir lieber, wenn Sie es nicht täten, da er sonst zu Hause sicher einen furchtbaren Krach macht. Das beste wäre, wenn Sie ein Wochenende auf dem Schloß zubrächten. Ich könnte Ihnen noch viele interessante Dinge erzählen. Kennen Sie Petersfield? Es ist ein kleines Dorf in Berkshire.«
Tanner sah ihn scharf an, denn diese Frage hatte er nicht erwartet. Lord Lebanon war also doch nicht so unbegabt, wie es den Anschein hatte, und er kannte auch das Geheimnis seiner Mutter.
Der Chefinspektor begleitete ihn bis zum Hauptportal von Scotland Yard. Auf dem Rückweg zu seinem Büro wurde er von Sergeant Totty eingeholt.
»Ich habe ihn bis auf die andere Seite des Ufers gebracht. Wie wäre es gewesen, wenn wir den Mann wegen Umherlungerns verhaftet hätten?«
»Meinen Sie Gilder? Nein, das geht nicht gut. Er kann ja auch nicht viel Schaden anrichten … Ich möchte nur wissen, ob er etwas gehört hat?«
»Sie meinen wegen Miss Isla Crane?« fragte Totty. »Oder wegen des Mischlings? Die Beweise gegen Amersham häufen sich mehr und mehr. Meiner Meinung nach haben wir doch jetzt Material genug, um Amersham zu verhaften.«
»Wenn Sie erst einmal einigermaßen gelernt haben, was die Polizei zu tun hat – und das wird vielleicht in fünfzig Jahren der Fall sein –, dann werden Sie auch endlich begreifen, daß man sehr leicht Leute verhaften, aber sehr schwer so viele Beweise beischaffen kann, um sie zur Verurteilung zu bringen.«
Als er wieder in sein Büro kam, sah er eine Reihe von jüngeren Beamten, denen er eine Instruktionsstunde geben mußte. Er seufzte, denn er haßte diese Vorlesungen. Viel lieber wäre er fortgefahren und hätte Amersham aufgesucht, um ihm ein paar wichtige Fragen vorzulegen.
»Gehen Sie nachher zur Wohnung von Dr. Amersham«, wandte er sich an Totty, »und sagen Sie ihm, daß ich ihn in Scotland Yard sprechen möchte. Natürlich braucht er nicht zu kommen, wenn er nicht will. Aber es wird die ganze Angelegenheit vereinfachen, wenn er sich in meinem Büro einfindet. Warnen Sie ihn auch wie üblich; am Ende hat er hohe Bekannte, die nachher einen furchtbaren Skandal machen, weil die Vorschriften nicht genau eingehalten worden sind.«
»Und wenn er nicht kommen will, soll ich ihn dann verhaften?« fragte Totty erwartungsvoll.
Tanner schüttelte den Kopf.
»Nein, soweit sind wir noch nicht.«
Ein Bote kam herein und brachte ein Telegramm. Totty nahm es in Empfang, öffnete es und reichte es seinem Vorgesetzten. Tanner las:
Äußerst dringend. Leiche Dr. Amershams heute vormittag 11:07 im Park von Marks Priory hinter Gebüsch gefunden, das fünfzig Meter südlich vom westlichen Flügel liegt. Der Tote wurde erdrosselt, aber man fand weder ein Tuch noch einen Strick. Kommen Sie sofort.
15
Ein Gärtner, der im Dorf gewesen war, kehrte durch den Park nach den Gewächshäusern zurück. Unterwegs sah er etwas im Schatten eines Rhododendronstrauches liegen und dachte zuerst, es wären alte Kleider, die jemand fortgeworfen hatte. Er ging darauf zu, um sich zu vergewissern, und fand Dr. Amersham tot auf. Der Arzt hatte die Hände krampfhaft erhoben, als ob er sich vor einem unsichtbaren Feind wehren wollte. Ein Tuch mußte um seinen Hals geschlungen gewesen sein; man konnte die Spuren der Erdrosselung noch deutlich sehen. Aber der Mörder hatte es anscheinend mitgenommen.
Der Dorfarzt wurde gerufen, aber er konnte nur feststellen, daß Amersham schon seit vielen Stunden tot war.
Lady Lebanon war in ihrem Zimmer, als sie die Nachricht erfuhr, und zeigte sich erstaunlich ruhig.
»Benachrichtigen
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