1051 - Als Verfluchte grüßen...
breite, vernietete Stahlkante hinweg und schaute auf das Wasser.
Es war der falsche Blick, wie Suko mir klarmachte. »He, John, hier spielt die Musik.«
Ich drehte den Kopf nach rechts. Zuerst sah ich Suko. Er hatte die gleiche Haltung eingenommen wie ich. Aber er schaute in die Höhe, denn dort stand eine Frau. Sie hatte sich noch am Gestänge der Brücke festgeklammert, aber sie sah so aus, als wollte sie jeden Augenblick in die Tiefe springen und sich im kalten Wasser des Kanals ertränken…
***
Vielleicht wäre sie schon gesprungen, wenn Suko nicht so plötzlich erschienen wäre. Sie tat es nicht und blieb innerhalb des Gestänges hängen. Ja, sie hing, zumindest sah es so aus, denn sie hatte ihren Oberkörper schon nach vorn gebeugt, die Arme ausgestreckt und mußte Schmerzen in den Schultern spüren, weil ihre Haltung zu unnatürlich war.
Sie hatte uns gesehen. »Haut ab!« brüllte sie. »Verdammt noch mal, haut ab!«
»Nein!« rief Suko zurück. »Seien Sie doch vernünftig! Es bringt nichts, wenn Sie springen! Das hat keinen Sinn! Warum wollen Sie Ihr Leben wegwerfen?«
»Weil es Scheiße ist!« schrie sie zurück. »Weil es sich nicht mehr lohnt, verflucht!« Sie hatte bei den Worten ihren Kopf wild nach rechts und links geworfen.
Von der Seite her sahen wir ihr verzerrtes Gesicht. Die Haut war feucht geworden. Aus dem Mund rann Speichel, aus den Augen sickerten Tränen, und immer wieder zuckte ihr Körper.
Suko stand ihr am nächsten. Er zog sich lautlos zurück, nicht ohne mir vorher zugenickt zu haben.
Ich wußte, was er vorhatte, und blieb stehen. Es war wichtig, mit der Frau zu sprechen, denn nur durch das Reden konnte ich sie von ihrem Vorhaben ablenken.
»Warum wollen Sie in den Tod springen? So schlecht kann das Leben nicht sein, als daß man es einfach wegwirft.«
»Was verstehst du denn schon davon?« brüllte sie.
»Nicht viel, leider.«
»Na eben!«
»Dann erzählen Sie es mir – bitte! Machen Sie mich schlau! Das ist bestimmt besser!«
Sie gab keine Antwort und atmete nur. Zum Glück war sie auf mich konzentriert und hatte Sukos Verschwinden nicht bemerkt.
Die Frau war etwa Mitte Dreißig, aber sie sah bedeutend älter aus.
Das graue Haar wirkte ebenso ungepflegt wie ihre gesamte Erscheinung. Der ebenfalls graue Mantel stand offen. Die Schöße wehten zur Seite. Darunter trug sie einen Pullover und eine Hose.
Unter Drogen schien sie nicht zu stehen. Diese Frau war einfach nur verzweifelt, und sie fand in ihrer Verzweiflung keinen anderen Ausweg mehr, als eben ins Wasser zu springen.
»Hau endlich ab!«
»Nein, ich bleibe!«
Sie lachte, aber es klang anders. »Willst du zusehen, wie ich ertrinke, du Mistkerl? Bist du ein Spanner?«
»Bestimmt nicht, Madam. Ich will Sie retten!«
»Madam! Scheiße, wer nennt mich denn Madam?«
»Wie heißen Sie denn richtig?«
»Das ist nicht mehr wichtig, verflucht! Mein Leben ist vorbei. Ich will nicht mehr.«
»Und warum nicht?«
»Das geht dich nichts an. Oder gehörst du auch zu denen, verflucht noch mal?«
»Wozu?«
»Schon gut, du edler Ritter. Wenn du jetzt nicht abhaust, dann springe ich.«
»Das wollten Sie doch sowieso tun!« sagte ich kalt. »Also bitte, ich schaue zu.«
Ich hatte sie bewußt provoziert und wollte Suko auch Gelegenheit geben, so nahe an sie heranzuschleichen, daß er zugreifen und sie vom Gerüst wegzerren konnte.
Die Frau war durch meine Worte verunsichert worden. Sie wußte wirklich nicht, wie sie sich verhalten sollte.
Hinter ihr tauchte Suko auf. Er bewegte sich geschmeidig wie ein Raubtier und kam ihr immer näher. Wenn sie noch etwas wartete, dann bekam Suko die Chance. Leider konnte er nicht vom Gehsteig aus zugreifen. Er mußte schon in das Gestänge klettern, und das würde die Frau möglicherweise merken.
Ich ließ sie nicht in Ruhe. »Ich komme gerade von einer Beerdigung. Ich weiß, wie schlimm es ist, wenn andere Menschen um einen Toten trauern. Dem Tod kann man nicht entgehen, das schafft kein Mensch auf der Welt. Aber man soll ihm auch nicht freiwillig die Hand reichen. Das ist einfach feige.«
»Habe ich trauern gehört?«
»Das haben Sie!«
»Um mich trauert keiner mehr, Mister! Niemand wird sich darum kümmern, ob ich mich ertränke und als Leiche irgendwann angeschwemmt werde. Haben sie gehört? Niemand.«
»Das glaube ich nicht.«
»Es ist mir scheißegal, was Sie glauben. Ich will nicht mehr leben, verflucht!«
Suko! dachte ich. Suko, wo bleibst du, zum Teufel? Die
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