1059 - Der Scharfrichter
groß.
So blieb sie hocken und kam sich vor wie in Eis eingepackt. Selbst ihre Gedanken waren vereist, und sie wollte auch nicht darüber nachdenken, was noch passieren konnte. Sie mußte ihre Kräfte darauf konzentrieren, dieser Falle zu entfliehen.
Noch war sie schwach. Eigentlich zu schwach, um normal reagieren zu können. Es fiel ihr nicht leicht, sich in die Höhe dazu drücken. Der Schlag gegen den Kopf war zu hart gewesen, und sie merkte den Schwindel, der sie beim Aufstehen packte. Die nahe Umgebung fing an, sich zu drehen. Sie selbst taumelte und mußte sich an der feuchten und lehmigen Grabwand abstützen.
Es war nicht so tief wie ein normales Grab. Auch nicht so lang und so breit. Sie als Mensch hatte gerade hineingepaßt, weil man ihre Beine angewinkelt hatte.
Mary wußte genau, daß dafür nur eine Person in Frage kam. Der Scharfrichter, der zu ihr gekommen war, um sich seinen Lohn zu holen. War das sein Lohn, den er sich wünschte?
Es ging wieder. Es mußte auch gehen. Sie würde zuerst aus dem Grab klettern und dann…
Da waren die Geräusche, die sie schon bei ihrem Erwachen gehört hatte. Diesmal klangen sie deutlicher und auch näher. Wer immer sie verursachte, mußte sich nahe am Grab aufhalten.
Sie drehte sich nach rechts. Der Grabrand reichte ihr bis zu Hüfte.
Ja, sie befand sich auf dem Friedhof von Mayne. Verschwommen sah sie die Gräber mit ihren Kreuzen und Steinen. Die Büsche, die schmalen Wege, den Kies, der leicht schimmerte – und die dunkle Gestalt, die sich schärfer abhob. Ebenso wie der Erdhügel dicht neben ihr.
Mary erkannte den Mann sofort.
Es war der Scharfrichter!
Sein Beil steckte noch zwischen den Seilen. Er hielt etwas anderes in der Hand. Es war eine breite Schaufel, die er in den Erdhügel hineingestoßen hatte. Nicht weit entfernt lag ein Spaten, mit dem er das Grab ausgehoben hatte.
Der Scharfrichter war damit beschäftigt, die Erde mit der Schaufel aufzulockern. Er stieß das Blatt immer wieder hinein, und genau diese Geräusche hatte Mary vernommen.
Es hatte noch nicht gesehen, daß sie wieder aufgewacht war.
Diese Chance wollte Mary nutzen. Dann trieb sie einfach ihr Überlebenswille, und die Frau bemühte sich, das Grab zu verlassen und dabei so gut wie keine Geräusche zu verursachen.
Das schaffte sie nicht. Sie war noch zu erschöpfte und dachte daran, sich zu viel vorgenommen zu haben, denn wieder schwankte die sichtbare Welt vor ihr.
Mary Pinter hielt den Mund offen, um Atem zu holen. Das war mit keuchenden Geräuschen verbunden und wurde gehört.
Der Scharfrichter drehte sich!
Mary bekam alles genau mit. Sie hatte den Eindruck, es im Zeitlupentempo zu erleben. Sie sah, wie sich das Gesicht langsam verzerrte, wie der Mund sich dabei zu einem häßlichen Grinsen in die Breite zog und die Augen aufleuchtete, als wäre dem Unhold genau in diesem Moment eine Idee gekommen.
Seine Hände, die den Griff der Schaufel losgelassen hatten, schnappte wieder zu. Mit einem heftigen Ruck rissen sie das Gerät aus dem Erdhügel hervor, doch diesmal war das Blatt mit der schweren, lehmigen Erde gefüllt.
Und sie schleuderte er nach vorn.
Mary Pinter hatte keine Chance, um auszuweichen. Für einen Moment sah sie die Masse noch vor ihrem Gesicht, dann wurde sie getroffen und erlebte wie schwer feuchte Erde war.
Wieder landete sie in diesem Grab. In ihr und um sie herum war alles dumpf. Es wirkte eingepackt wie in Watte. Sie hörte die Stimme des Unholds, als er ihr sagte: »Ich hole mir meinen Lohn. Ich werde ihn bekommen. Keine Sorge…«
Mary Pinter begriff den Sinn der Worte nicht.
Mary lebte noch. Aber sie war gefangen in der Dunkelheit. Etwas in ihrem Innern fing an zu sprechen und schickte ihr eine Botschaft.
LEBENDIG BEGRABEN!
Sie dämmerte immer mehr dem Tod entgegen, während der Scharfrichter seine Arbeit fortsetzte. Er schaufelte noch immer Erde in das Grab hinein. Er wollte es wieder auffüllen und plattdrücken.
Davon merkte Mary nichts. Sie war bereits tot. Elendig unter den Erdmassen erstickt.
Nichts mehr war von ihr zu sehen. Dem Scharfrichter blieb auch nicht mehr viel zu tun. Er mußte die Graberde nur flachklopfen, das war alles. Dabei konnte er sich Zeit lassen. Niemand würde den Friedhof um diese Zeit betreten. Die Menschen in Mayne sprachen zwar nicht darüber, aber sie wußten, daß dieses Gelände nicht geheuer war.
Für ihn war es nur gut. Er hatte sein viertes Opfer gefunden. Weitere würden folgen…
***
Nichts bleibt wie
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