106 - Atomgespenster
verließ hastig den Wagen, als sie sah, daß Mandy Gorling
abfahren wollte.
»Hallo, Mandy! Wo willst du hin? Ist etwas
passiert ?«
Jacqueline Canven kam aus New Orleans. Sie
befand sich auf einer Geschäftsreise durch einige Staaten, um mit den Künstlern
zu sprechen, die sie unter Vertrag hatte.
Dazu gehörte auch Mandy Gorling.
Doch hier gab’s nicht nur geschäftliche
Beziehungen, sondern auch menschliche.
Die Konzertagentin, der Mandy einen großen
Teil ihrer Karriere verdankte, weil sie sie mit den entscheidenden Männern von
Show, Variete und Fernsehen zusammengebracht hatte, war mit Mandy Gorling
befreundet.
Mandy war - bevor sie Gilbert Frenton
kennenlernte und sie ihre gemeinsamen Tanz-Sketche und Parodien entwickelten -
bereits ein Begriff gewesen. Seit Frentons Tod war Mandy nur sporadisch
aufgetreten.
Jacqueline Canven kannte die Tragik in Mandys
Leben und wollte ihr zu neuer Karriere verhelfen. Sie hatte ein entsprechendes
Angebot mitgebracht. Es ging um eine dreizehnteilige Fernsehserie, die durch
getanzte Parodien miteinander verbunden wurden. Die Ereignisse in den zwanziger
Jahren sollten in musikalisch-tänzerischer Form dem amerikanischen Publikum nahegebracht
werden.
Der Name Mandy Gorling war nach wie vor ein
Kassenmagnet und der Produzent bestand darauf, Mandy »einzukaufen«. Das Honorar
für die Tänzerin war beachtlich und Jacqueline Canven glaubte, daß es jetzt
nach dem Sanatoriumsaufenthalt möglich sein würde, die Freundin wieder in ein
normales Leben zu integrieren.
Die Agentin, die in den letzten Tagen einige
Male mit Mandy Gorling gesprochen und dabei den Eindruck gewonnen hatte, daß
dies auch tatsächlich möglich war und Mandy wieder Interesse an ihrer Arbeit
und ihrem Beruf entwickelte, sah den Chevrolet aus der Einfahrt schießen.
»Mandy!« Die elegant gekleidete Frau mit den
hohen Stöckelschuhen und dem hochgesteckten Haar lief winkend zu dem Wagen.
»Wir sind doch verabredet !«
Die Tänzerin starrte auf die Besucherin,
schien sich aber nicht an die telefonische Vereinbarung, daß Jacqueline heute
nacht hier bleiben würde, zu erinnern.
»Ich muß weg .. .
ein andermal !« rief sie aus dem heruntergekurbelten
Fenster. »Ich hab’s eilig, Jacqueline. Dr. Funner erwartet mich. Er weiß, wo Shirley sich aufhält! Aber er verschweigt es mir.
Viele Adoptiveltern suchen Neugeborene, und sie bezahlen gut dafür ... Er hat
Shirley verkauft! Ich weiß es ganz genau .«
Jacqueline Canven erbleichte unter ihrem
Make-up.
»Ich habe keine Zeit. .. Shirley ruft mich .. . Diesmal werde ich sie finden !« Mandy Gorling gab Gas.
»Oh, mein Gott !« entfuhr es Jacqueline Canven. »Es fängt wieder an .«
Sie nahm hastig ihren Platz am Lenkrad ein
und folgte dem Chevrolet.
Mandy Gorling fuhr wie der Teufel.
Sie achtete nicht auf
Geschwindigkeitsbegrenzungen und Kreuzungen, überfuhr Ampeln bei Rot und hatte
es nur der späten Stunde und dem damit zusammenhängenden schwachen Verkehr zu
verdanken, daß nichts passierte.
Zum Glück lag das Krankenhaus, das Mandy
Gorling magisch anzog, nur wenige Fahrminuten von der Siedlung der
Einfamilienhäuser und Bungalows entfernt.
Jacqueline Canven ahnte Schreckliches.
Mandy hatte einen Rückfall.
Mit einem Menschen, der so labil war, der
keinen Halt im Leben mehr fand, ließ sich ein Millionen-Projekt nicht
durchführen . . .
Die Agentin ließ alle Hoffnung fahren.
Traurig, mit Tränen in den Augen, saß sie am
Steuer ihres Ford und wußte, daß Mandy verloren war.
Sie stand an der Schwelle zum Wahnsinn, hatte
diese vielleicht schon überschritten.
Die Einfahrt zum Krankenhaus wurde nur durch
eine einfache hölzerne Barriere gesichert.
Mandy Gorling raste bis an den Straßenrand
heran, riß die Tür auf und stürzte davon. Sie kümmerte sich weder um ihr Auto,
dessen Motor noch lief, noch um den Zuruf des Nacht-Portiers, der sie aufhalten
wollte.
Die Frau ließ sich nicht aufhalten.
Mit langen Schritten eilte sie die Zufahrt
entlang, die zum Haupteingang führte.
Dort stand ein Ambulanzwagen, aus dem zwei
Sanitäter eine Frau auf einer Bahre heraustrugen.
Die Männer hatten es eilig. Die Frau lag in
den Wehen.
Mandy Gorling huschte durch die offenstehende
Glastür und durchquerte die Halle.
Die Tänzerin wartete nicht auf die Ankunft
des Lifts, sondern sprang leichtfüßig über die Treppe nach oben.
Jacqueline Canven machte es wie ihre
Freundin. Ohne auf den Zuruf des Nachtportiers an der Schranke zu reagieren,
lief
Weitere Kostenlose Bücher