1060 - Die Mystikerin
Helferin wichtiger gewesen. Auch wenn Ginny bisher gelitten hatte, plötzlich war alles anders geworden. Sie konnte wieder denken, Hoffnung schöpfen, als sie trotz allem auf Rocco schaute, der dabei war, seine Hose auszuziehen.
Nein, das war nicht mehr wichtig. Etwas anderes interessierte sie viel mehr. Hinter ihm war eine Erscheinung aufgetaucht. Ein Geistwesen. Eine Frau mit einem sehr bleichen und ätherisch wirkenden Gesicht. Sie trug eine Kutte oder zumindest eine Kapuze, denn eigentlich war nur das Gesicht und ein Teil des Oberkörpers zu sehen.
Das meiste war einfach verschwunden, als wäre es von der Luft aufgesaugt worden.
Rocco merkte nichts. Er sah auch nichts. Auch nicht den Gegenstand, den die Erscheinung in ihrer rechten Hand hielt. Er war lang und spitz. Ein Messer. Nicht aus Stahl, sondern aus einem Material, das glänzte.
Die Person stand hinter Rocco. Sie schwebte noch näher, und Ginny hatte nur Augen für sie.
Das merkte auch der Zuhälter. Er konnte sich Ginnys verändertes Verhalten nicht erklären. Er schüttelte den Kopf und wurde sogar etwas unsicher.
»He, was hast du?«
Das schrille Lachen brach aus Ginny hervor. Es hatte sich lange genug aufgestaut. Es war eine Reaktion, die Rocco nicht verstand. Das hatte er bei seinen Mädchen noch nie erlebt. Und freudig hatte es sich nicht angehört.
»He, was soll das? Warum lachst du?«
Hinter ihm hob die Erscheinung das Messer.
Erst jetzt gab Ginny die Antwort. »Ich lache, weil du gleich sterben wirst…«
***
Wer die Oper Lucia die Lammermoor kennt, der weiß, daß die Hauptperson Lucia in den Irrsinn getrieben wird, dabei die berühmte Wahnsinnsarie singt und in einem weißen, aber blutbefleckten Kleid mit zudem blutigen Messer über die Bühne taumelt.
Ich hatte diese Oper zweimal gesehen. Diese Szene war mir in besonderer Erinnerung geblieben. Jetzt sah ich sie zum drittenmal. Allerdings nicht auf der Bühne, sondern in Wirklichkeit. Ein Blick durch das schmale Fenster hatte mir diesen Anblick gezeigt. Eine Frau, die im blutigen, weißen Kleid mit einem Dolch in der Hand durch den Flur huschte. Die Klinge war blutverschmiert, denn sie hatte im Körper eines Menschen gesteckt.
Die Gestalt war zu schnell vorbeigehuscht. Ich hatte nicht eingreifen können. Außerdem stand dich draußen, und sie war im Haus.
Aber sie würde so leicht nicht entwischen können, denn es gab nur zwei Türen. Eine an der Vorder- die andere an der Rückseite. Die vordere hielt ich im Blick. Die zweite Tür wurde von der Detektivin Jane Collins beobachtet, damit die Frau mit dem Messer nicht aus dieser Abrißbude entkommen konnte. Sie hatte einen schaurigen Anblick geboten, der auch mir unter die Haut gegangen war.
Da hatte Jane Collins schon eine Nase gehabt, mich mitzunehmen, denn dieser Auftrag war ihr nicht geheuer gewesen. Daran dachte ich zunächst nicht. Ich wollte in das Haus, in dem mindestens ein Toter oder Verletzter lag.
Die Frau mußte gestellt werden. Sie hieß Amy. Mehr wußte ich nicht von ihr.
Dieses Abrißhaus stand dort, wo sonst keine anderen mehr zu finden waren, auf dem Gelände der Bahn, nicht weit von Gleisen und abgestellten Güterwagen entfernt und zudem auf einem Gelände, über das der Wind pfiff.
Der alte Ziegelsteinbau war früher als Pausenhaus für die Bahnarbeiter benutzt worden. Die Zeiten waren längst vorüber. Seit langem stand es leer, aber nicht ganz leer, denn wie ich aus unbestätigten Quellen gehört hatte, nisteten sich Stadtstreicher bei schlechtem Wetter dort ein, um wenigstens ein Dach über dem Kopf zu haben.
Ich hatte Amy durch ein Fenster an der Seite gesehen. Der normale Eingang lag an der Schmalseite. Und die Frau mit dem blutigen Kleid war auch in Richtung des Eingangs gegangen. Vielleicht wollte sie dort entkommen. Deshalb wollte ich sie vor der Tür erwarten.
Die unmittelbare Nähe des kleinen Hauses war zu einer Müllkippe geworden. Viele Menschen hatten dort ihren Dreck entsorgt. Das fing bei abgefahrenen Autoreifen an und hörte bei einem defekten Kühlschrank auf. Dazwischen lagen Dosen, mit Müll gefüllte Tüten oder zerschnittene Schuhe. Auch alte Lebensmittel faulten vor sich hin. Es roch für Menschen nicht gut. Dafür aber für Ratten, die sich in dieser Umgebung wohlfühlten. Drei hatte ich schon gesehen.
Von Jane hörte ich nichts. Es war sowieso nicht viel zu hören. Nur der scharfe und kalt gewordene Aprilwind, der um meine Ohren pfiff.
Vor der Tür blieb ich stehen. Ein knapper
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