1060 - Die Mystikerin
Sommer auch berühmte Ritterfestspiele auf den Burghöfen, umrahmt von Theaterstücken und höfischer Musik.
Aber der Sommer war noch weit. Nicht einmal die weißen Schiffe der Ausflugsflotten kämpften sich durch den Strom. Noch hatte die Gegend Ruhe, der große Ansturm würde erst in wenigen Wochen losbrechen.
In den Bergen war es ruhig. Der Wald stand still. Noch einmal zwitscherten die Vögel, um von einem Tag Abschied zu nehmen, denn der Abend und die Nacht waren nicht mehr aufzuhalten.
In den Weinbergen war immer etwas zu tun. Doch mit Einbruch der Dunkelheit hatten sich die Winzer zurückgezogen und der Natur wieder die Gegend überlassen.
Sie konnte wuchern, sich ausbreiten, denn zu den Kämmen der Berge hoch zog es nicht viele Menschen. Für sie waren der Rhein und die Orte an seinen Ufern wichtiger.
Der Fluß war auch gesäumt von Straßen und der Eisenbahn. Besonders in der abendlichen Stille waren die Züge zu hören, die über die Schienen glitten. Der Schall wurde an den Flanken in die Höhe getragen, bis hin zu den Kämmen.
Dort verlor er sich dann im dichten Wald und in der Einsamkeit des Abends.
Aber so ohne Leben war die Umgebung nicht. Es gab eine Person, die sich ihren Weg bahnte, die sich auch abseits der eigentlichen Pfade aufhielt, weil sie den Wald so gut kannte, als wäre er ein Teil von ihr.
Wie ein Gespenst glitt die Frau mit dem bleichen Gesicht und den hellen Augen durch den Wald. Es war nichts zu hören. Kein Rascheln, kein Atmen, kein Knacken eines Zweigs, und auch die Dunkelheit zwischen den Stämmen machte ihr nichts aus.
Zielsicher fand sie ihren Weg, den sie schon oft gegangen war.
Den rechten Arm hatte sie angewinkelt und dabei den unteren Teil nach vorn gestreckt. Ihre Finger umklammerten die helle Waffe, diesen Dolch, der aussah wie aus Knochen hergestellt. Sie war darauf gefaßt, einer Gefahr zu begegnen, sie mußte wachsam sein, denn sie hatte gespürt, daß man ihr auf dem Fersen war.
Nicht nur in Deutschland, auch in England, in London, in der Stadt, in der sie zuletzt tätig gewesen war, um sich die beiden noch fehlenden Frauen zu holen.
Nicht nur Deutschland und nicht nur der Rhein waren ihr Gebiet.
Nein, sie wollte Europa bekehren und im Westen anfangen, um später den Weg nach Osten hin ausweiten zu können. Die Lehren der großen Heiligen, die niemals heilig gesprochen worden war, sollten im gesamten Europa Fuß fassen können, denn das allein zählte für sie. Wenn die Jahrtausendwende da war, dann sollte die Erinnerung an Hildegard von Bingen wie ein strahlender Stern über Europa leuchten.
Sie fühlte sich dazu erkoren. Sie war auserwählt worden. Sie hatten in den Jahren zuvor und als Gefangene einer Einsamkeit die Stimme der Hildegard gehört. Sie war ihre Botin, sie bereitete ihr den Weg, um das Böse in das Gute und das Ungerechte in das Gerechte umwandeln zu können. Rücksicht nahm sie nicht. Wer nicht für sie war, der war gegen sie. Dazu zählten auch die Menschen, die versuchten, das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären.
Wie Eltern, Freunde, Verwandte und auch Polizisten, wie dieser Mann in London, zusammen mit der Frau. Auch in Deutschland gab es einen, der dabei war, ihre Spur aufzunehmen. Sollte er ihr noch näher kommen, würde sie ihn töten müssen.
Sie durchlief den Wald. Allein mit sich selbst und ihren Gedanken.
Sie blieb immer in der Höhe des Kammes, denn hier in der Nähe lag ihr Ziel.
Es dauerte nicht lange, da lichtete sich der Wald. Die hohen Bäume traten zurück. Lichtungen entstanden zwar nicht. Dafür wuchs Niederwald vermischt mit Buschwerk. Gerade so hoch, um den größten Teil der alten Burgruine zu verdecken.
Es waren nur noch Reste vorhanden. Niemand interessierte sich mehr dafür. Abgesehen von ihr selbst, denn diese Burg hatte sich Hildegarda als Hauptquartier ausgesucht.
Sie glitt zwischen den Mauern hindurch. Sie spürte, daß ihre Gehilfinnen noch da waren, und schon bald sah sie die Pflastersteine auf dem Boden, die früher einmal den Innenhof bedeckt hatten. Sie waren auch jetzt vorhanden, aber stark überwuchert. Man mußte sich schon sehr gut auskennen, um den kleinen Eingang zu finden, dem die Treppe folgte. Hinein in eine finstere Tiefe, die wenig später nur vom hellen Gesicht mit den leuchtenden Augen der Frau etwas durchsichtiger wurde. Sie ging in den Keller.
In einen Raum.
Naß, feucht und stinkend präsentierte er sich ihr. Aber hier unten fühlte sie sich wohl, denn hier hatte sie ihre
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