1064 - Horror-Line
weitergehen. Die Abstände würden immer kürzer werden. Sie konnte sich nicht so in der Gewalt haben wie Fay, die einfach nicht so viel brauchte, aber Candy hatte sich auch vorgenommen, sich von Fay zu trennen und nicht mehr so eng mit ihr zusammen zu sein. Jeder sollte seinen eigenen Weg gehen.
Sie hatte Mühe, sich zu beherrschen. Candy stöhnte. Mit den Händen stützte sie sich am Baumstamm ab und spürte unter ihren Handflächen die rauhe Rinde. Der Hunger quälte sie. Er bohrte in ihr, und er war auch dabei, sie äußerlich zu verändern, da sich die perversen Gefühle nicht mehr im Zaum halten ließen.
Candy merkte es selbst. Was immer an Gefühlen in ihr steckte, wallte hoch, drängte nach außen, und das genau machte sich als ein widerlicher Geruch bemerkbar. Er quoll aus ihren Poren. Er strich an ihrem Körper in die Höhe. Er war wie eine unsichtbare Fahne. Der widerliche Gestank des Schleims, den sie nicht mehr zurückhalten konnte, im Gegensatz zu der Masse an sich.
Sie brodelte in ihr. Sie schien zu kochen, aber sie schickte sich noch nicht an, aus den Öffnungen zu quellen und an ihrem Körper entlang nach unten zu laufen.
Das Gesicht zuckte. Es tat sich etwas hinter der Haut. Der Schleim drängte in ihren Mund ebenso hinein wie die stinkende Masse in ihre Nase quoll. Sie warf den Kopf zurück. Der Hut störte sie plötzlich. Den Schleier hatte sie bereits nach oben geschoben, um freien Blick zu haben. Jetzt riß sie den Hut ab und schleuderte ihn weg. Er blieb auf einem benachbarten Grab liegen.
Äußerlich ging es ihr besser, aber im Innern tobte die Gier weiterhin. Es war vielleicht falsch gewesen, hier auf den Friedhof zu gehen, wo so viele Opfer lagen. Diese relative Nähe brachte sie fast um den Verstand. Das Menschsein bekam ihr nicht. Candy balancierte auf dem schmalen Grat der Verwandlung zwischen Mensch und Monster.
Der Pfarrer hatte seine Rede beendet. Er kondolierte jetzt. Candy schaute zu. Sie hatte sich jetzt an den Baumstamm festgeklammert. Mit der rechten Gesichtshälfte scheuerte sie an der harten Rinde entlang. Vor den Lippen schimmerte bereits der Schleim, und erste Tropfen rannen wie Fäden am Kinn entlang.
Der Pfarrer schritt die Menschen ab und sagte hin und wieder ein tröstendes Wort. Dann zog er sich zurück und ließ die Trauergemeinde allein.
Candy wußte, was folgte. Die Menschen würden an das Grab herantreten und letzte Grüße in die Tiefe werfen. Die Frauen Blumen, die Männer lehmige Erde. So war es schon immer gewesen, und so würde es auch bleiben. Danach würden sich die Menschen zurückziehen und das offene Grab, um das herum zahlreiche Kränze lagen, verlassen. Es waren regelrechte Kranzhügel geworden, und das kam Candy sehr zupaß. Die Hügel deckten das Grab gegen neugierige Blicke. Sie wußte nicht, wann die Männer kamen, um es zuzuschaufeln. Das konnte durchaus noch bis zum nächsten Tag dauern, denn es war die letzte Beerdigung an diesem Tag.
»Geht!« brachte sie flüsternd hervor. »Verdammt noch mal, geht endlich und laßt den Toten allein!«
Sie konnte es nicht erwarten. Die Gier stieg noch stärker in ihr hoch, und wenn sie sprechen wollte, mußte sie zunächst den stinkenden Schleim ausspeien.
Auch in ihrem Mund war die Veränderung eingetreten. Er hatte sich innen und außen verzogen, damit sich auch die Zähne verändern konnten und zu diesen Ghoulhauern wurden.
Die engsten Verwandten waren bereits gegangen. Freunde und Bekannten traten an das Grab heran, um ihre letzten Grüße in die Tiefe zu schicken. Immer wenn der Lehm auf das Holz fiel, hörte sie die Echos der Aufschläge.
Nicht mehr lange! hämmerte sich Candy ein. Es dauert nicht mehr lange. Ich packe es. Ich brauche kaum noch zu warten. Wieder hatte sich in ihrem Hals der stinkende Schleim angesammelt, den sie ausspucken mußte. Mit der Zungenspitze leckte sie über ihre Lippen. Auch die Zunge war zu einem schimmernden Klumpen geworden, und einige Fäden blieben zwischen ihr und den Lippen hängen.
Der Gestank war impertinent, das wußte sie selbst. Aber er breitete sich nicht so weit aus, daß ihn die anderen Trauergäste rochen. Vielmehr kreiste er nur in Candys Nähe, und das war auch gut so.
Auch hinter den Augen spürte sie den fremden Druck. Es fiel ihr schwer, klar zu sehen, und sie mußte sich stark konzentrieren. Nur noch wenige Menschen hielten sich in der Nähe des offenen Grabes auf. Die Zeit war also fast abgelaufen, und das freute sie.
Candy zählte
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