1064 - Horror-Line
Deckel auch so fest war wie normal.
Die Irritation war rasch vorbei. Die Gier wuchs weiter in ihr, und sie wollte auf keinen Fall so dicht vor dem Ziel aufgeben. Nein, da mußte weitergemacht werden. Noch nie hatte sie so dicht vor dem Ziel aufgegeben.
Mit beiden Händen packte sie zu, zerrte am Deckel.
Es klappte nicht.
Die Hände waren einfach zu glatt. Der Schleim hatte die Schicht gebildet und bot keinen Widerstand mehr.
Sie fluchte und putzte die Handflächen an ihrem kurzen Rock ab. Auf dem Material blieben die gelbgrauen Steifen zurück.
Der nächste Versuch!
Sie strengte sich an. Da reagierte sie wie ein Mensch. Aber sie hatte den ins Unterteil eingeschobenen Deckel jetzt besser zu fassen bekommen. Außerdem waren ihre Hände nicht mehr so glatt.
Der Deckel bewegte sich!
Candy hätte jubeln können, doch sie hielt sich zurück. Das Ziel war noch nicht erreicht, und sie mußte einen erneuten Versuch starten.
Diesmal hatte sie schon so etwas wie Routine bekommen. Sie griff richtig zu, spürte die Bewegung des Deckels, der dann in den Schienen höherglitt und das Unterteil freigab.
So schnell, daß selbst Candy davon überrascht wurde. Sie hielt ihn in den Händen, und das Gewicht trieb sie dabei etwas zurück, so daß sie mit dem Rücken gegen die Grabwand stieß.
Aber sie hatte es geschafft!
Noch verwehrte ihr der hochkant stehende Deckel den Blick auf den Toten. Auch jetzt wußte sie sich zu helfen. Candy schwang das Oberteil nach links, stemmte es an und nutzte die Grabkante als Rutschbahn für den Deckel, den sie nach oben schob.
Dabei drückte er einige Kränze zur Seite, was ihr allerdings egal war. Hauptsache, er störte nicht mehr. Ein Stück von ihm ragte noch über die Kante hinweg, das stört Candy nicht, denn jetzt konnte sie sich dem Toten widmen.
Sie schaute nach vorn.
Da lag er.
Wie hingegossen, wie für sie geschaffen. Er war geschminkt worden, und er trug auch kein Totenhemd, sondern einen dunklen Anzug. Dazu ein weißes Hemd. Seine Hände waren auf der Brust gefaltet. In das Grab hineinfallende Sonnenstrahlen spiegelten sich auf dem Lackleder seiner Schuhe.
Eine dunkle Krawatte, die Haare sorgfältig gekämmt, das alles sah aus, als würde er schlafen.
Aber er schlief nicht. Sie wußte es. Er war tot. Wer konnte so etwas besser beurteilen als sie.
Candy bückte sich. Sie war mit dem Toten allein. Aus der Umgebung hörte sie nichts. Die Stille eines späten Nachmittags hüllte sie ein und war auch in das Grab hineingedrungen.
Besser hätte sie es nicht treffen können. Und sie begann, das Festmahl vorzubereiten…
***
Es war eine Chance für uns. Nicht mehr und nicht weniger, und wir mußten die Chance wahrnehmen. Der Friedhof lag in einem vornehmen Stadtteil, in Kensington. Wer hier begraben werden wollte, der mußte mehr zahlen als die üblichen Preise.
Kensington ist normalerweise schnell zu erreichen. An diesem Tag aber hatten wir Pech. Da war der Verkehr so dicht wie selten. Oder es kam uns nur so vor, weil wir es eilig hatten. Da wir nicht fliegen konnten, mußten wir uns den Gegebenheiten fügen.
Wir hatten uns auch keine Verstärkung besorgt und darauf verzichtet, den Friedhof von Kollegen beobachten zu lassen, denn noch stand nicht fest, ob die Spur des toten Robert Ferris diejenige war, die uns zu dieser geheimnisvollen Candy brachte.
Es war nur zu hoffen.
Selbst Suko - sonst die Ruhe selbst - war nervös geworden. Er biß sich einige Male auf die Unterlippe, was mir auffiel, aber ich hielt mich zurück. Der Verkehr war einfach zu stark, zudem war ich mit der Suche nach Lücken beschäftigt, um schneller voranzukommen.
Von der Beerdigung würden wir nichts mehr mitbekommen. Da kamen wir leider zu spät. Einerseits war es ein Glück. Sollten wir recht behalten, konnten wir keine Zeugen gebrauchen.
Nicht weit vom Friedhof entfernt kamen wir dann besser voran. Auch die Umgebung hatte sich verändert. Hier waren die chicen Szene-Treffs verschwunden und hatten den altehrwürdigen Häusern das Terrain überlassen.
Ich fuhr einem Hinweisschild nach, hinein in eine scharfe Rechtskurve und hörten den leichten Protest der Hinterreifen. Sehr helles Mailicht und Schatten wechselten sich ab. Es war nicht nur warm geworden, sondern schon schwül, ungewöhnlich für diese Jahreszeit.
Von außen sah der Friedhof aus wie ein Park. Wir rollten auf den Eingang zu, und ich dachte daran, wie oft uns schon der Weg zu einem Gräberfeld geführt hatte.
Im Schutz hoher Bäume,
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