1064 - Horror-Line
Stimmen. Leise zwar, und sie konnte auch nicht verstehen, was gesagt wurde, doch sie unterschied zwei verschiedene Stimmen und wußte demnach, daß sie sich auf zwei Feinde einstellen mußte.
Das gefiel Candy gar nicht. Sicherheitshalber zog sie sich zurück, noch bevor die beiden Besucher das Grab erreicht hatten. Candy wußte nicht, wer sie waren. Möglicherweise Freunde des Toten, die die Beerdigung verpaßt hatten oder Menschen, die genau wußten, wen sie zu jagen hatten.
Für Candy wurde es spannend. Nur eines paßte ihr nicht. Zum Greifen nah hatte das Opfer vor ihr gelegen, und doch war es ihr nicht gelungen, den Hunger zu stillen…
***
Zwar kannten wir uns auf dem Gelände nicht aus, aber wir hofften nicht, daß wir uns verliefen und erst noch groß herumsuchen mußten. Beide gingen wir mittlerweile davon aus, auf der richtigen Spur zu sein, und die würden wir sicherlich bald riechen.
Noch herrschten andere Gerüche vor. Auch auf einem Friedhof wuchs Flieder. Seine Blüten wehten uns ihren Duft in die Nasen, der so gar nichts mit dem eines Ghouls oder einer verwesenden Leiche zu tun hatte. Er überdeckte in seiner Nähe alles.
Das Licht der Sonne drängte sich durch das Laub der Bäume. Es schuf helle, fleckige Zonen auf dem Boden oder ließ sie über die verschiedenen Grabsteine fließen. Manche erinnerten mich an kleine Denkmale, so hoch standen sie von den Gräbern ab. Die Inschriften interessierten mich nicht, und auch Suko kümmerte sich nicht darum. Wichtig war das Grab, das neue, das einzig offene.
Noch hielten wir uns an die Vorschriften und gingen auf einem normalen Weg entlang. Er war glücklicherweise nicht mit Kies bestreut, so daß wir uns recht lautlos bewegen konnten.
Plötzlich blieb Suko stehen. Auch ich stoppte, denn ich wußte, daß mein Freund nicht grundlos verharrte.
Rechts und links wuchsen die Grabsteine hoch, als wollten sie uns wie Wächter flankieren.
Suko sah angespannt aus. Er bewegte auch seine Nase. »Riechst du das, John?«
»Noch nicht…«
Auf der Stelle drehte er sich langsam nach rechts. Wenig später nickte er sich selbst zu. »Es kommt von dieser Seite. Ja, ich irre mich nicht. Der Geruch muß dort irgendwo seinen Ursprung haben, und es riecht nach Verwesung. Komm!«
Diesmal blieben wir nicht auf dem Weg, sondern gingen durch die Lücke zwischen zwei Grabsteinen hindurch.
Vor uns lag das Gebiet, und hier in der Nähe befand sich auch das frische Grab.
Auf der anderen Seite dieses Rechtecks. Wir sahen es sofort. Wie zufällig lag es im Schein der Sonne. Dahinter ragten Bäume auf, die ihren Schatten nicht so weit warfen.
Zu beiden Seiten des Grabs türmten sich die Kränze. Sie bildeten dort einen regelrechten Wall. Aus dem Grün des Buchsbaums und der Nadelhölzer stachen die bunten Blumengebinde hervor. Rosen leuchteten in Rot und Gelb. Narzissen gab es ebenso wie Wicken. Das interessierte uns nicht, wichtig war dieser Gestank, den ich ebenfalls wahrnahm. Er verdichtete sich, je näher wir dem Ziel kamen.
Unsere Schritte wurden länger. Wir schauten nicht nur nach vorn, sondern hielten auch die Umgebung im Auge. In das Grab konnten wir noch nicht hineinschauen, dazu waren wir zu weit weg.
Beide hatten wir die Waffen gezogen. Das Singen der Vögel hörten wir nicht mehr. Eine ungewöhnliche Stille umgab uns, in die sich dieser Gestank mischte.
Ich kam mir vor wie von der realen Welt entfernt. Jetzt gab es nur noch diesen Friedhof mit seinen alten Gräbern und Grabsteinen. Die kleinen Wege, die aus diesem Gebiet ein Schachbrettmuster machten, übersprangen wir, und plötzlich war es soweit.
Wir hatten das Grab erreicht - blieben stehen!
Die Bewegungen von Helligkeit und tanzenden Schatten waren erstarrt. Es gab für uns nur noch das Grab.
Wir blickten hinein.
Suko stöhnte auf, ich preßte die Lippen zusammen. Den Sargdeckel, der außen lag und an der anderen Seite der Kränze nach unten gerutscht war, nahmen wir erst jetzt wahr. Er interessierte uns auch nicht, denn das Grab selbst war wichtiger.
Unsere Blicke fielen in einen offenen Sarg. Dort lag der Verstorbene. Er trug nur noch eine Hose, sein Oberkörper war nackt. Aber er sah noch normal aus. Es hatte sich bisher kein Ghoul an ihm zu schaffen gemacht.
Nur der Gestank hatte sich in der Windstille gehalten. Er wehte aus dem Grab hervor wie der Pesthauch des Todes…
***
Beide schwiegen wir, weil jeder von uns das Bild erst auf sich wirken lassen wollte. Ich spürte hinter meinen Schläfen
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