1071 - Die Urnen-Gang
Schwester, die den Widerstand der sechzehnjährigen Sonja zusammenbrechen ließ. Kathy hatte recht, sie wußte Bescheid, und es hatte auch keinen Sinn, sich jetzt aus dem Wagen werfen zu wollen. Die beiden Männer waren immer stärker und schneller.
Der Beifahrer drehte sich um. »Du hast es gehört, Süße. Deine Schwester hat recht. Es ist unmöglich, hier wegzukommen. Begreife es. Du hast Kathy immer, gesucht. Jetzt bist du mit ihr zusammen. Sei froh darüber, verdammt froh sogar.«
Sonja wollte etwas erwidern, doch Kathy ließ sie nicht dazu kommen. Sie hatte den rechten Arm angehoben und streichelte mit dem Handrücken über Sonjas Wange hinweg.
Sonja zuckte bei der Berührung zusammen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, von einem Stromstoß erwischt zu werden, denn Kathys Haut fühlte sich anders an als sonst.
Oder war es keine Haut mehr?
Nein, Haut fühlte sich anders an. Nicht so rauh und hart, aber trotzdem irgendwie weich.
Sonja blieb starr sitzen, schaute nicht einmal nach links zu Kathy hin, die leise lachte und die Hand wieder wegnahm. Erst jetzt drehte auch Sonja den Kopf - und glaubte, irre zu werden.
Ihre Schwester tat etwas, das Sonja nicht in ihren kühnsten Träumen erwartet hätte. Sie beschäftigte sich mit ihrem Arm. Sie drückte ihn dort zusammen, wo ein Stück fehlte. Sie strich mit der linken Hand über den rechten Arm hinweg. Immer- und immer wieder, als wollte sie ihn besänftigen und beschwören. Dabei lächelte sie und nickte vor sich hin.
Das Unglaubliche trat ein. Sonja wollte es auch jetzt nicht glauben. Es war der reine Wahnsinn und völlig unverständlich. Durch das Streicheln und möglicherweise auch durch ein sanftes Kneten schaffte Sonja es, die Lücke zu schließen.
Sie heilte den Arm mit ihrer eigenen Hand!
Sonja schloß die Augen. Sie wußte nicht mehr, was sie denken sollte. Was in diesem Auto geschah, dafür gab es keine Erklärung. Das war einfach zuviel.
»Ist es nicht wunderbar, wenn man so lebt wie ich?« fragte Kathy dabei leise.
Sonja schwieg. Sie sah nicht, sie glotzte nach vorn, und sie spürte wieder die Feuchtigkeit in ihren Augen. Innerlich kam sie sich wie vereist vor. Sie wollte es einfach nicht wahrhaben, bis sie wieder Kathys Stimme hörte.
»Schau mich an, Schwester…«
Noch zögerte Sonja. Sie wußte ja, was geschehen war, aber sie wollte es nicht sehen. Irgend etwas in ihrem Innern sperrte sich dagegen.
»Sieh nur, was passiert ist!«
Sonja überwand sich. Ihr Kopf befand sich noch in der Bewegung, als Kathy den rechten Arm anhob.
Einen völlig gesunden Arm. Sie hatte die Lücke einfach durch perfektes Streicheln oder Kneten ausgeglichen. »Ist das nicht wunderbar?« flüsterte sie.
Sonja war nicht in der Lage, ihr eine Antwort zu geben. Sie schaute den Arm an, aber sie blickte auch an ihm vorbei, um das Gesicht der Schwester zu sehen. Ja, es war noch ihr Gesicht, aber es hatte einen anderen Ausdruck bekommen. Es sah nicht mehr so gelöst aus, jetzt war es hart geworden, vielleicht triumphierend.
»Was… was… ist nur mit dir geschehen, Kathy? Ich… kann mir nicht helfen, aber das ist…«
»Mir geht es gut, sehr gut sogar.« Sie gab ein Geräusch von sich, wie jemand der ausatmet.
Sonja saß so nahe bei ihr, daß sie den Atem hätte auf ihrem Gesicht spüren müssen.
Das traf nicht zu.
Es war unmöglich, aber eine Tatsache. Auch als Kathy weitersprach, wobei Sonja nicht auf die Worte achtete, fiel ihr auf, daß ihre Schwester nicht zu atmen brauchte.
Sie lebte ohne das Wichtigste überhaupt!
Sonja konnte nicht mehr nachdenken. Sie dachte deshalb auch nicht mehr an sich und an ihren Zustand. Nur die Schwester war wichtig, die lebte, obwohl sie nicht mehr atmete.
Was alles durch ihren Kopf wirbelte, das wußte Sonja nicht. Es konnten tausend Gedanken und mehr sein, doch sie war nicht in der Lage, sie zu ordnen. Sie sah nur die Schwester vor sich, die jetzt glücklich lächelte, und sie fragte sich auch, ob das noch ihre Schwester war. Ein Mensch mußte atmen, um existieren zu können, aber Kathy atmete nicht, und sie lebte trotzdem.
Wer oder was war sie?
Diesmal waren die Tränentropfen kalt, die an Sonjas Wangen entlang liefen. Sie hatte für Kathy Schlimmes befürchtet, es war ihr unerklärlich, was tatsächlich mit ihr geschehen war. So etwas konnte schlimmer als der Tod sein.
Sie wollte Kathy ansprechen, auch wenn sie nicht so recht wußte, was sie zu ihr sagen sollte. Dazu kam Sonja nicht mehr, denn sie hörte die Stimme
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