1073 - Liebling der Toten
»Das hast du mich schon einmal gefragt, Erica, und ich habe dir auch da keine Antwort gegeben, die dich befriedigt hätte. Ich möchte es auch dabei belassen.«
Erica war damit nicht einverstanden und schüttelte den Kopf. »Warum denn nur? Warum sperrst du dich? Willst du nicht reden? Ist es dir unangenehm? Sag es…«
»Auch das«, gab er zu.
Erica schaute ihn an. Die Zeichnung war für sie uninteressant geworden.
Sie suchte nach Worten und fand sie schließlich. »Bist du überhaupt noch ein Mensch wie alle anderen auch?« Die Frage hatte sie Mühe gekostet, und sie entschuldigte sich auch sofort, aber Hardy lachte nur darüber.
»Schau mich an. Sehe ich aus wie ein Monster?«
»Nein, das nicht.«
»Dann bin ich ein Mensch.«
»Aber ein besonderer.«
»Das kann sein.«
Erica leckte über ihre trockenen Lippen. »Könnte ich dich als einen Menschenfreund bezeichnen?«
»Jaaa…«, antwortete er zögerlich, »aber nicht ausschließlich. Ich weiß, daß die Menschen nicht nur nett und freundlich sind, Erica. Sie sind einfach unterschiedlich. Es gibt gute und weniger gute Menschen. Und manche von ihnen sind einfach schlecht. Widerlich. Man kann mit ihnen nicht zusammenkommen. Es sind nur Kreaturen ohne Herz und fast ohne Seele. Sie haben für mich kein Recht, sich als Menschen zu bezeichnen. Sie sind einfach nur Monster. Sie wilde Tiere zu nennen, wäre eine Beleidigung für diese Geschöpfe.«
Erica deutete mit dem Zeigefinger auf die Zeichnung. »Dieser Killer gehört dazu?«
»Ja!«
»Und er läuft frei herum.« Als sie das sagte, überkam sie eine Gänsehaut.
»Er läuft noch frei herum«, erwiderte Hardy leise. »Ich kenne nicht einmal seinen Namen, aber ich werde dafür sorgen, daß es mit seiner Freiheit bald vorbei ist. Das kann ich dir versprechen.«
Sie schaute ihn überrascht an. »Wie… wie willst du das denn tun? Willst du hingehen und ihn töten?«
»Nein, ich habe andere Methoden.«
»Welche denn?«
»Auch das wird mein Geheimnis bleiben. Du brauchst keine Sorge zu haben, daß der Mörder nicht gefaßt wird, das kann ich dir hoch und heilig versprechen. Man kriegt ihn, und er wird auch seine gerechte Strafe bekommen. Das ist sicher.«
Erica Morton schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das alles nicht. Vielleicht will ich es auch nicht verstehen. Ich möchte nur, daß es ein wenig Gerechtigkeit gibt, das ist alles.«
»Keine Sorge, die wirst du erleben.«
»Und was kann ich tun? Oder was soll ich tun?«
Hardy senkte den Kopf. »Ja, darüber müssen wir auch noch reden. Dein Sohn ist tot. Du wirst dich also mit der Polizei in Verbindung setzen müssen. Du kannst nicht einfach nur einem Arzt Bescheid sagen, damit er den Totenschein ausstellt. Er wird Kevin untersuchen und sehr schnell herausfinden, wie er ums Leben kam. Dann ist er gezwungen, der Polizei Bescheid zu geben. Deshalb ist es besser, wenn du dich selbst an sie wendest.«
»Was soll ich ihnen denn sagen, wenn sie mich fragen?«
»Du wirst ihnen erklären, daß Kevin hier in der Wohnung gestorben ist. Du hast ihn schwerverletzt gefunden, in die Wohnung geschafft, um Hilfe zu holen. Es ist zu spät gewesen. Da war er schon tot. Genau das mußt du sagen.«
Erica deutete wieder auf die Zeichnung. »Und was ist mit diesem Killer, verdammt?«
»Kein Wort davon.«
»Und wenn sie mir Fragen stellen?«
»Sollen Sie, Erica. Du weißt nichts, gar nichts, hast du gehört? Du bist außen vor. Du wirst nur das sagen, was ich dir soeben erklärt habe, und dabei wirst du bleiben. Alles andere können wir vergessen, und den Rest erledige ich.« Er nahm die Zeichnung an sich und steckte sie weg.
Erica war sprachlos. Erst als Hardy aufgestanden war, konnte sie eine Frage stellen. »Wo willst du denn hin? Kommst du noch einmal wieder?«
Er stand schon an der Tür und zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, Erica. Ich weiß wirklich nicht, ob ich noch einmal zu dir zurückkehren werde. Wenn nicht, dann behalte mich bitte in guter Erinnerung.«
»Bist du ein Mensch?«
Er krauste die Stirn und gab ihr eine sehr ungewöhnliche Antwort.
»Zumindest bin ich ein Liebling der Toten…«
Ein letzter Wink, dann ging er und ließ eine fassungslose Erica Morton zurück.
***
Der nächste Morgen!
Er war ebenso grau wie der am Tag zuvor. Der Himmel schien sich wegen des Elends der Menschheit ausweinen zu wollen, und entsprechend grau war auch die Stimmung der Menschen. Es gab zumindest eine Ausnahme. Das war Suko. Er hatte den neuen,
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