1073 - Liebling der Toten
sie sogar noch verstärkt worden, und das alles konnte ich aufnehmen und registrieren.« Er deutete auf seine Stirn. »Ich habe nichts davon vergessen.«
»Schön. Das war auch besprochen. Aber du wolltest doch noch etwas anderes tun?«
»Natürlich, Erica. Ich habe es auch nicht vergessen. Ich werde dir beweisen, wer deinen Sohn auf dem Gewissen hat. In den nächsten Minuten wirst du es sehen, denn Kevins Seele, sage ich mal, hat mir die Beschreibung gegeben.«
»Willst du alles zeichnen?«
Hardy nickte. »So war es besprochen, und ich fange jetzt gleich damit an.«
Erica Morton wußte, daß es keinen Sinn mehr hatte, irgendwelche Fragen zu stellen. Es war am besten, wenn sie den Mann in Ruhe ließ.
Sie hatte ihm bisher vertraut, und dieses Vertrauen wollte sie auch beibehalten, obwohl sie genau wußte, daß er ihr im Prinzip nichts erklären würde. Es kam ihr einzig und allein auf das Ergebnis an.
Hardy hatte Papier und Kugelschreiber vor sich auf den runden Tisch gelegt. Er schob die Decke etwas zur Seite, um mehr Platz zu haben.
Bevor er anfing, bat er Erica noch einmal, ihn nicht durch irgendwelche Zwischenfragen aus dem Konzept zu bringen, und die Frau stimmte durch ihr heftiges Nicken zu.
Hardy begann mit seiner Arbeit. Er hielt den Stift locker in der Hand, hatte den Block leicht schräg gelegt und zeichnete mit schnellen Bewegungen.
Von oben her schaute die Frau zu. Sie erkannte, daß Hardy nicht nur einfach eine Person malte, sondern auch ein Umfeld. So sah sie einen Flur und eine Treppe, aber der Mittelpunkt dieser Zeichnung war noch immer der Mensch, und dessen Gesicht wurde sehr genau und detailliert gemalt. Dabei ließ Hardy sich Zeit. Er verbesserte immer wieder. Er fügte hier und da etwas zu, er malte selbst das dünne, kurze Haar, und unter seinen geschickten Fingern nahm das Gesicht allmählich eine sehr lebendige Form an.
Der Mann »lebte«. Ja, er kam schon einer Fotografie gleich, wie er vor der Treppe im Hintergrund stand. Bei seinem Körper gab sich Hardy nicht so viel Mühe. Er deutete ihn nur mehr mit Strichen an, aber wichtig war auch das Gesicht.
Erica schaute noch immer zu. Sie war dermaßen fasziniert, daß sie den Tod ihres Sohnes für diese Zeitspanne vergessen hatte. Ihre Hände zitterten leicht, und sie wartete voller Ungeduld und Spannung darauf, daß Hardy seine Zeichnung beendete.
Erica Morton stöhnte auf, als er den Kugelschreiber schließlich zur Seite legte. »Ist er das?«
Hardy drehte die Zeichnung um. »Ja, Erica, das ist er. Das ist der Mörder deines Sohnes…«
***
Erica Morton schloß die Augen. Sie hatte mit dieser Antwort rechnen müssen, trotzdem war sie erschüttert. Sie sah das Bild desjenigen, der ihren Sohn umgebracht hatte. Wenn sie daran dachte, wie es zustande gekommen war, stiegen große Trauer und auch Furcht in ihr hoch. Sie holte sich noch einmal vor Augen, wie alles gekommen war und mußte einfach stöhnen.
»Du solltest jetzt sehr stark sein, Erica. Es ist wichtig für dich und für mich.«
»Ja, ja«, flüsterte sie, noch immer mit geschlossenen Augen. »Ich will es auch. Aber es ist nicht einfach für mich. Das wirst du auch verstehen können.«
»Natürlich verstehe ich das. Aber wir Menschen müssen manchmal ungewöhnliche Wege gehen, und da muß sich auch der eine auf den anderen verlassen können.«
Erica schaute wieder hin. Sie war endlich in der Lage dazu. Tränen hatten sich in ihren Augen festgesetzt. Sie mußte sie erst wegwischen, um klar sehen zu können.
Dann hörte sie die Frage. »Kennst du den Mann?«
Erica gab noch keine Antwort. Sie schaute genauer hin. Sie suchte das Gesicht ab, um jede Einzelheit erkennen zu können. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Also nichts?«
»Nein.«
»Er hat sich hier in der Gegend aufgehalten. Ich habe dir erzählt, wo man deinen Sohn getötet hat.«
»Ja, weiß ich. Trotzdem habe ich ihn noch nicht gesehen. Er ist ein Fremder, Hardy. Und er sieht so schrecklich aus. So… so… kalt und gnadenlos.«
»Das ist er auch.«
»Kennst du ihn denn?« flüsterte sie überrascht.
»Nein, ich habe ihn zuvor nie gesehen. Ich habe nur das wiedergegeben, was ich durch deinen Sohn erfahren habe. Persönlich ist mir dieser Mensch nie begegnet.«
»Und trotzdem muß alles stimmen.« Sie schüttelte den Kopf. »Wer bist du eigentlich, Hardy?«
Mit dieser Frage hatte er gerechnet. Er lachte leise auf und lehnte sich zurück. Dabei legte er seine Hände um die Knie und hob die Beine leicht an.
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