1073 - Liebling der Toten
Aber es ist schwer. Es kann durchaus sein, daß er sich als einen Gerechtigkeitsfanatiker ansieht. So etwas gibt es ja durchaus. Methoden sind da ganz verschieden, doch wie dem auch sei, bisher ist alles Spekulation.« Er verzog das Gesicht. »Ich sitze hier und komme nicht weiter. Das macht mich verrückt. Auch über den Killer werden wir keine Spur zu unserem Unbekannten finden. Dieser Miller ist so etwas wie ein Mittel zum Zweck gewesen, wenn man es streng sieht.«
Da widersprachen wir nicht. Für uns stand ebenfalls an erster Stelle, daß wir diesen Unbekannten mit seiner schon überirdischen Begabung finden mußten. Ich überlegte, welcher Mensch dazu schon in der Lage war. Zu einem Ergebnis kam ich nicht. Die Dinge liefen einfach viel zu quer.
Der Chief Inspector nickte uns zu. »Ich spüre, fühle, weiß es. Es wird nicht die letzte Nachricht gewesen sein, die er mir zugeschickt hat. Da kommt noch etwas. Vielleicht morgen schon. Möglich ist alles.«
»Wobei ich mich frage«, sagte ich, »warum er gerade dich als Zielperson ausgesucht hat.«
»Da hast du recht.«
»Vielleicht kennt er Tanner«, sagte Suko zu mir.
»Meinst du das auch?« fragte ich den Chief Inspector.
»Keine Ahnung, John. Ich bin hier völlig außen vor. Mir schwirrt der Kopf. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich denken soll, und komme mir vor wie an einer langen Leine geführt, ohne zu wissen, wer sie in der Hand hält.«
Das konnten wir ihm nachfühlen. Ich schlug deshalb vor, den nächsten Tag abzuwarten.
»Geht nur nicht davon aus, daß da tatsächlich etwas passiert. Es ist besser, wenn wir abwarten.«
»Klar«, sagte ich. »Wir stellen uns auch darauf ein, ihn zu suchen, auch wenn es keine Neuigkeiten von ihm gibt. Besser wäre der andere Fall. Ich rechne auch damit, daß er eintritt.«
Tanner lächelte kantig. »Ist schon okay. Ich werde mich um Miller kümmern. Kann sein, daß doch noch etwas herauskommt, was unsere Sache hier betrifft. Wenn nicht, möchte ich zumindest herausfinden, wer er tatsächlich ist und wer seine Auftraggeber sind. Oder wie seht ihr die Dinge?«
»Schalte sie ein.«
Er nickte mir zu. Diese Bewegung war für uns das Zeichen, von den Stühlen hochzukommen. Der alte Filzbelag klebte an meinem Hinterteil.
Ich zupfte ihn ab und legte ihn wieder hin.
An der Tür drückte uns Tanner noch einmal die Hand. Suko besonders lange. Dabei sagte er: »Meiner Frau habe ich nichts von dieser Szene an der Tankstelle erzählt. Ich werde auch weiterhin meinen Mund halten. Sie will sowieso immer, daß ich mich pensionieren lasse, aber dazu habe ich nun wirklich keine Lust. Bei allem, was recht ist.«
Wir konnten ihn verstehen. Er und auch Sir James gehörten zu den Menschen, die ohne Arbeit kaum vorstellbar waren. Sie einmal nicht mehr zu sehen, das wäre auch für uns nicht leicht gewesen. Wir hatten uns zu sehr aneinander gewöhnt.
Vor der Tür empfing uns ein kühler Wind, der Nieselregen gegen unsere Haut wehte. Es war zu kalt für den Sommer. Ich schaute auf die grau wirkenden Hausfassaden, blickte auf Einsatzwagen, die sich unter der Nässe duckten, und dachte daran, daß in dieser großen Stadt möglicherweise ein Mensch existierte, der es verstand, die Gedanken der Toten aufzunehmen, obwohl Tote ja nicht mehr denken konnten. So war es eigentlich völlig absurd und kaum erklärbar.
Aber was im Leben ist schon logisch? Solange es Menschen gibt, ist auch die Unlogik vorhanden, und genau das ist eben so menschlich an unserer Welt…
***
Hardy küßte den Toten!
Er küßte die kalten Lippen. Er berührte sie zuerst mit seinen warmen nur kurz. Ein leichter, hauchdünner Kontakt, nicht mehr, aber er spürte schon den Unterschied zwischen einem lebenden und einem toten Menschen.
Er schloß die Augen. Er brauchte jetzt die absolute Ruhe und hoffte, daß die Mutter nicht kam und ihn störte. Versprochen hatte sie es ihm.
Hardy atmete durch die Nase. Auch sie schwebte über dem starren Gesicht. Es sah so aus, als wäre der Mann dabei, den Geruch des Toten in sich aufzusaugen, um die letzten Aura zu schmecken, bevor sie endgültig verging.
Ja, da war etwas. Er nahm dieses Gefühl intensiv wahr. Es war nicht positiv. Es war die Angst. Eine schreckliche Angst, die den jungen Mann in den letzten Sekunden des Lebens überfallen hatte. Grausam und für ihn kaum zu verkraften.
Schlimme Gefühle, die sich vor seinem Ende angesammelt hatten. Er war aufgewühlt, er hatte die Nähe des Todes gespürt, als sein Mörder
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