1073 - Liebling der Toten
verstand, und dann hörte er die hastigen Schritte auf dem alten Holz der Stufen. Die Gestalt rannte von oben herab nach unten. Sie geriet in den Schein der Lampe.
Kevin stellte fest, daß die Fliehende so gut wie nackt war. Sie trug nur einen dunklen Slip auf der hellen Haut. Ihr Gesicht war verzerrt. Sie weinte und rief verzweifelte Worte in der fremden Sprache.
Dann stolperte sie.
Kevin bekam alles genau mit. Er sah wie die fast Nackte abhob. Wie sie sich selbst Schwung gegeben zu haben schien, was nicht der Fall war.
Ihr eigenes Tempo, verbunden mit ihrem Gewicht, schleuderte sie nach vorn. Den Halt verlor sie, als ihr rechter Fuß die letzten Stufen verfehlte.
Mit weit vorgestreckten Armen segelte sie dem Boden entgegen und prallte dort hart auf.
Kevin hörte den dumpfen Schlag. Er sah, wie das Mädchen noch weiter auf ihn zurutschte und so liegenblieb, daß es auch vom Licht der Lampe erfaßt wurde.
Kevin ging zu ihr. Dabei fragte er sich nicht, ob er es überhaupt wollte. Er mußte es einfach tun. Man schien ihn angestoßen zu haben.
Er kniete sich neben ihr nieder.
Das Mädchen lag mit dem Gesicht nach unten. Es hatte helles blondes Haar, das den Kopf strähnig umgab. Unterhalb der Strähnen zeichnete sich eine rote Farbe ab.
Blut…
Kevin schloß die Augen. Plötzlich war ihm übel. Er dachte auch daran, daß die Kleine nicht allein die Treppe herabgefallen war. Doch, allein schon, aber dafür mußte es einen Grund gegeben haben. Der Schrei, das Weinen, das Klatschen und…
Plötzlich zog ein anderer Geruch in seine Nase hinein. Er kannte ihn aus diesen fremdländischen Schnellimbissen. Kevin schaute über die Leblose hinweg in die Höhe - und sah den Riesen…
***
Zumindest kam ihm die Gestalt wie ein Riese vor. Kevin erschrak heftig, aber sein Schrei erstickte in der Kehle.
Der andere stand verdammt nah bei ihm. Und weil Kevin noch immer kniete, wirkte er so schaurig wie aus einem der schrecklichen Märchen entsprungen.
Gehörte hatte ihn Kevin nicht. Er mußte wie auf Samtpfoten die Treppe herabgekommen sein, nachdem er die junge Frau gejagt hatte, unter deren Kopf die Blutlache immer größer wurde.
Er sah brutal aus. Er hatte ein böses Gesicht, auf dessen Wangen sich Schatten abzeichneten. Es war der Bart, der stark wuchs. Seine Hose schimmerte. Sie mußte aus Lack oder Leder bestehen. Er trug eine kurze Jacke und darunter ein helles Hemd, das er nicht völlig geschlossen hatte. Die Haare trug er im Bürstenschnitt.
Kevin wußte, daß es gefährlich geworden war. Er kannte die Gegend, er war hier aufgewachsen, und er wußte, daß die Typen hier oft genug kurzen Prozeß machten.
An Flucht war nicht zu denken. Der Typ würde ihn einholen. Also es mit Worten versuchen. Er konnte alles erklären, und vielleicht hatte der Kerl sogar Verständnis.
Kevin mußte sich räuspern. »Hören Sie«, sagte er mit rauher Stimme, »ich wollte eigentlich nichts. Es war nur so, wissen Sie. Mir ist es so anders, ich meine…«
»Halt deine Schnauze!«
Die Antwort reichte aus. Kevin wußte jetzt Bescheid. Gnade und Verständnis konnte er nicht erwarten. Dieser Kerl würde seinen Weg gehen, und er würde sich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Mit den Mädchen machte er Geschäfte. Für junge Körper wurde viel gezahlt. Um sich bei diesen Geschäften nicht stören zu lassen, gingen die Banden auch über Leichen.
Kevin nahm an, daß die junge Frau tot war. Die Sprache des Blutes war deutlich genug. Wenn alles stimmte, so dachte Kevin, bin ich Zeuge eines Mordes geworden. Was gewisse Leute mit Zeugen machten, das brauchte man ihm nicht erst zu sagen.
»Du hättest nicht kommen dürfen!« erklärte der Zuhälter.
Kevin rang nach Worten. »Ich wollte es auch nicht. Es war nur… ja, das Haus war früher immer leer und jetzt…«
»Es geht dich einen Scheißdreck an, Junge. Tut mir leid für dich, daß dein Leben schon beendet ist.«
Kevin hatte es gehört. Er faßte es noch nicht. »Wieso?« flüsterte er.
»Ja, du bist schon so gut wie tot!«
Kevin Morton wußte Bescheid. In diesem Augenblick peitschte die Angst in ihm hoch. Eine Angst, wie er sie noch nie erlebt hatte. Es war die Todesangst. Er konnte plötzlich nicht mehr richtig sehen. Er glaubte auch, sich in die Hose zu machen. Er wollte weg, aber er war wie gebannt und blieb auf dem Boden knien, den Blick erhoben.
Der Zuhälter hob sein rechtes Bein an.
Zum erstenmal sah Kevin die Schuhe.
Es waren Springerstiefel. Er selbst hatte sie
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