1080 - Hexenwald
Lungen. Er mochte diese dörfliche Stimmung, die immer so friedlich war. Oft genug allerdings täuschte der Friede, denn hinter den Fassaden sah es manchmal anders aus.
Harry ging zu seinem Wagen. Er wollte den Wald besuchen. Nur nicht sofort. Er würde sich noch einige Kleidungsstücke kaufen müssen. Zumindest andere Schuhe und eine neue Hose. In seinem Outfit sah er nicht eben aus wie ein Waldläufer.
Harry fuhr an. Sehr langsam rollte er dem Ortskern entgegen. Dort lag auch das kleine Hotel, in das er sich einquartiert hatte. Die Sonne war durchgekommen und badete die Umgebung in helles Septemberlicht. Über die Windschutzscheibe hinweg huschten die Schatten der Bäume und auch die der Häuser.
Alles sah so vertraut aus, obwohl er sich in der Fremde befand. Zugleich ließ sich Harry Stahl nicht täuschen. Denn hinter mancher Fassade lauerte oft genug das Grauen…
***
Anena war noch immer unterwegs!
Der Wald war ihr Revier, ihre Heimat. Hier fühlte sie sich zu Hause. Hier konnte sie leben. Hier fand sie alles, um sich wohl zu fühlen, und hier hatte sie den Kontakt zu ihm bekommen, der sie all die Zeit über beschützt hatte.
Jetzt war es an ihr, ihm etwas von dem zurückzuzahlen und dafür zu sorgen, daß sie irgendwann gleich standen. Es durfte nichts verändert werden, dieses Gebiet mußte rein bleiben, und jeder, er gegen dieses Verbot verstieß, zahlte die Rechnung.
Es ging alles seinen Gang. Sie konnte zufrieden sein, und trotzdem war etwas geschehen, das nicht in ihre Pläne hineinpaßte. Die Natur hatte sich gegen sie gestellt. Mächtige Regenfälle hatten für schlimme Überschwemmungen gesorgt und sie hatten sich bis in diesen Wald hinein ausgebreitet.
In ein Feuchtgebiet, das sowieso schon von Tümpeln, Morast und Sumpf durchzogen war, und so war es dem Wasser nicht gelungen, abzufließen. Auch jetzt, wo es nicht mehr regnete und das Licht der Sonne die dunkelgrüne Welt des Waldes in einen fast hellgrünen Schimmer verwandelte, stand das Wasser an den flacheren Stellen noch immer kniehoch. Es würde lange dauern, bis es verdunstet war. Wie von einem mächtigen Windstoß geschleuderte war das Regenwasser in diese Welt hineingedrungen und hatte für die Überflutung gesorgt. Es waren kleine, neue und strudelige Bäche entstanden, die wie ein Aderwerk durch den Wald rannen, um später im normalen Bach zu münden, der natürlich weit überflutet worden war und sich schon zu einem Fluß verändert hatte.
Anena wußte auch, daß die Kraft des Wassers, gegen die sie selbst nichts tun konnte, etwas aus dem Versteck geholt hatte, das unbedingt dort hätte liegenbleiben sollen.
Es war nicht so passiert. Sie hatte nicht achtgegeben und mußte nun die Folgen tragen.
Die Beute war verschwunden. Aus dem Versteck gerissen worden, und Anena hatte sie auch nicht wiedergefunden. Aber der Mann war nicht der einzige gewesen, es gab noch einen zweiten, der in den Ketten hing, und den sie jetzt durch das kniehohe Wasser hinter sich herschleifte.
Es war heller Tag. So sah es in Anenas Umgebung nicht aus. Im Wald herrschte stets ein bestimmtes Licht, mal dunkler, mal heller, nie richtig klar, immer etwas dunstig, so daß der Begriff verwunschenes Zwielicht am besten zutraf.
Anena ging durch den Wald, ohne sich orientieren zu müssen. Es war ihre Welt, in der sie schon lange lebte, in der sie auch Schutz bekam, weil sie ihm diente.
Bei jedem Schritt plätscherte das Wasser. Wellen kräuselten die Oberfläche. Anena brauchte sich nicht zu orientieren. Der Weg war wie immer der gleiche. Insekten summten ihre nie abreißende Musik. Der Tanz über dem Wasser riß nie ab. Hin und wieder flogen die Vögel herbei und schnappten zu. Auch die gefiederten Tiere huschten wie Schatten durch den Wald.
Manchmal drang ein Sonnenstreifen durch eine Lücke im Geäst. Bevor er den Boden erreichte, hatte er seine helle Farbe längst verloren und einen ebenfalls grünlichen Schimmer angenommen. Diese Welt war sich selbst überlassen worden. Sie war auch begrenzt. Für denjenigen jedoch, der inmitten des Waldes stand, mußte sie endlos erscheinen. Er sah weder einen Ein- noch Ausgang.
Die Frau mit den schwarzen Haaren hatte die Kette um ihr Handgelenk geschlungen. Sie bewegte sich einfach sicher durch ihr Gebiet. Auf ihrem Gesicht lag ein ständiges Lächeln, und auch der an sich helle Körper hatte einen grünlichen Schimmer erhalten, über den hin und wieder grünschwarze Flecken huschten. Anena trug eine knappe Hose, die
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