1081 - Die Mutprobe
nicht weg.
An Mandy wollte er nicht mehr denken. Jetzt war es einzig und allein seine Sache.
Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung zerrte er sein rechtes Bein in die Höhe - und bekam es frei.
Bein und Fuß schnellten aus dem Boden, aber der Jubelschrei blieb ihm in der Kehle stecken.
Der Vorgang war noch nicht beendet.
Es hatte sich ein Loch aufgetan, und daraus hervor schnellte die dunkle Totenklaue und umklammerte sein rechtes Bein, bevor es wieder den Boden berührte…
***
Ruben Moreno begriff die Welt nicht mehr. Er war nicht einmal in der Lage, einen Schrei auszustoßen oder um Hilfe zu bitten. Das Entsetzen und die Furcht vor seinem Tod hatte ihn sprachlos werden lassen. Alles in ihm war wie eingefroren. Er war nicht fähig, sich aus eigener Kraft auch nur um einen Zentimeter zu bewegen.
Mandy Mannox schaute zu. Sie sah aus wie jemand, der das Übel sah, aber nichts dagegen unternehmen konnte oder auch wollte, denn sie akzeptierte die Veränderung auf dem alten Friedhof.
Moreno war nicht mehr so stumm. Er kämpfte jetzt, er keuchte. Er bäumte sich gegen sein Schicksal auf, aber die große, dunkle und mit langen Nägeln bestückte Hand war einfach zu stark. Wie eine Gartenkralle aus Metall.
Er kam nicht los, so sehr er sich auch bemühte. Er versuchte es, sich freizuzerren, aber die Klaue griff weiter. Sie packte sein Schienbein, und aus dem Grab war ein ebenfalls langes Stück Arm erschienen.
Ruben Moreno konnte noch immer nicht richtig fassen, daß er es war, der dem Monstrum Tribut zollen sollte. Es hatte sein Grab verlassen, um sich ein Opfer zu holen. Schreckliche Gedanken zuckten durch den Kopf des jungen Mannes. Er dachte an Geschichten, in denen lebendige Menschen in Särgen und Gräbern lagen. Oder an welche, die unter der schweren Last der Erde einfach erstickten.
Der Kampf ging weiter. Ruben wehrte sich. Er schlug um sich. Seine Fäuste trafen auch ein Ziel, denn mittlerweile war es nicht nur bei Händen und Armen geblieben. Ein mächtiger Körper hatte sich aus der Erde hervorgewühlt. Schrecklich anzusehen, doch Ruben nahm das Bild nicht auf. Tränen verschleierten seinen Blick, während er immer stärker in den Griff des Monstrums hineingeriet, das nicht in seinem Grab bleiben wollte.
Mandy Mannox war auf die Knie gefallen. Sie hielt die Augen geschlossen und wirkte neben dem Grab wie ein schlafender Engel. Sie wollte auch nicht hinschauen und lauschte nur den Geräuschen nach, denen sie nicht entgehen konnte.
Nicht hineinschauen. Alles über sich ergehen lassen. Pretorius kümmerte sich um ihn. Er war der Herr auf diesem Friedhof, auch noch als Toter.
Tatsächlich als Tote?
Das konnte Mandy nicht mehr glauben. Nein, er war nicht tot, aber er lebte auch nicht. So wie er sah kein lebender Mensch aus. Aus dem Grab war ein fürchterliches Monstrum geklettert. Ein verwestes Gebilde. Widerlich, monströs, vom Pesthauch des Todes umgeben, aber mit einer Kraft versehen, die auf Mandy nicht ohne Eindruck blieb. Sie wußte, daß sie nichts tun konnte und auch nicht wollte. Und so blieb sie auf dem Boden knien, hielt die Augen geschlossen und lauschte den schrecklichen Geräuschen, die sie dabei hörte.
Das Jammern stammte von Ruben. Wehleidig klingende Laute drangen aus seinem Mund. Begleitet wurden sie von einem schrecklichen Modergeruch, der ihr entgegenwehte. Der Gestank der Toten aus dieser tiefen Höhle.
Sie hörte Schritte.
Auf dem Grab klatschten sie zweimal, dann hatte der andere es geschafft, seine letzte Ruhestätte zu verlassen. Sie hörte ihn jetzt gehen. Das war der Moment, in dem sie die Augen öffnete und auch den Kopf leicht drehte.
Pretorius hatte das Grab verlassen und ging weg. Es war dunkel, es war neblig. Sie sah ihn nicht sehr deutlich. Zudem schaute sie auf seinen Rücken. Er bewegte sich über den Friedhof wie ein Vampir, der sein Opfer geholt hatte.
So lag Ruben Moreno auf seinen nach vorn gestreckten und leicht angewinkelten Armen wie ein Toter. Pretorius bewegte sich mit seiner Last auf den Eingang des alten Totenackers zu, dort, wo dieses Kirchenfenster aus alten Steinen in die Höhe wuchs.
Der Nebel umschwamm seine Gestalt. Dünne Schwaden, die ihm etwas von der Schwere nahmen.
Seine Gestalt sah so leicht und verschwommen aus, als befände sie sich wieder auf dem Weg ins Reich der Toten.
Mandy Mannox war auch jetzt nicht in der Lage, sich von der Stelle zu bewegen. Sie wollte aufstehen und dem anderen nacheilen. Es blieb beim Wunsch, sie schaffte es
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