1081 - Die Mutprobe
porös, aber es stand noch, wenn auch recht schief.
Mandy kam von der Seite. Sie hatte es geschafft, so lautlos wie möglich zu gehen. Sie schwankte auch nicht beim Laufen. So sah ihre Gestalt fast schon wie ein Engel aus, der auf die Erde gekommen war, um einen alten Totenacker zu besuchen.
Der kondensierte Atem vor ihren Lippen mischte sich mit dem Nebel. Die Wolken waren träge. Sie waren wie alte Gespenster, die es nicht mehr in der Erde ausgehalten hatten und nun den Friedhof für sich in Besitz genommen hatten.
War Mike da? War er nicht da?
Sie sah ihn nicht, aber sie wollte auch nicht den Stab über ihn brechen. Möglicherweise hockte er an der Rückseite des Grabsteins, um Wache zu halten.
Vielleicht war er auch eingeschlafen. Es wäre mehr als normal gewesen.
Sie ging um das Grab herum. Wieder sehr vorsichtig.
Nichts war von Mike zu sehen. Nur die Dunstschleier trieben nach wie vor lautlos über den dunklen Boden hinweg. Kalte, feuchte Klammern, die auch die Gestalt der jungen Frau umhüllten, als wollten sie ihr ein zweites Kleid geben.
Kein Vogel meldete sich. Die Tiere der Nacht hielten sich verborgen und überließen anderen das Feld. Ein toter, ein seelenloser Ort, eingebunden in eine schreckliche Kälte, die aus der Tiefe des Bodens zu steigen schien und sich besonders intensiv um das Grab des Pretorius hielt.
Vor ihm blieb sie stehen. Mandy schüttelte leicht den Kopf. Sie wollte nicht mehr weitermachen und hinter anderen Grabsteinen nachschauen. Sie wußte einfach, daß ihr Freund Mike sie geleimt hatte, und das konnte ihr nicht gefallen.
Als sie Schritte hörte, drehte sie den Kopf nach links. In der Mischung aus Dunkelheit und Nebel malte sich Ruben Morenos Gestalt ab. Er hatte gewartet und auch gesehen oder geahnt, daß Mike nicht da war.
Recht schnell kam er näher. Mandy hörte seinen heftigen Atem, dann blieb er neben ihr stehen.
»Nichts, wie?«
Sie nickte.
»Scheiße, das habe ich mir gedacht. Dieser Sauhund. Tut so, als würde ihm die Wache nichts ausmachen. War geil auf die Mutprobe und hat uns geleimt.« Er hob seinen rechten Fuß und trat wütend auf das Grab. Es malte sich nicht besonders vom Boden ab. Im Laufe der langen Zeit war es eingesackt und abgeflacht.
»He, warum sagst du nichts?« Mandy lächelte. »Ich weiß nicht, warum du dich so aufregst.«
»Ach, ich soll mich nicht aufregen? Ist das für dich denn alles normal, was hier abläuft? Hätte ich das gewußt, wäre ich zu Hause geblieben und hätte mir einen gepackt, verdammt.«
»Er kann ja durchaus hier gewesen sein«, sagte sie.
»Oh, wie schön, du nimmst ihn in Schutz. Und wie kommst du auf den Gedanken?«
»Das spüre ich.«
Moreno glotzte sie an. »He, hast du noch alle richtig im Kopf? Wie kannst du spüren, ob er hier am Grab gewesen ist oder nicht? Hat er dir eine Nachricht hinterlassen?«
»Nicht so, wie du denkst.«
»Sondern?«
»Schau dich um, Ruben. Es gibt Spuren. Du wirst sie sehen können, auch wenn es dunkel ist. Ich habe sie am Boden entdeckt. Geh um das Grab herum.«
»Nein, das schenke ich mir. Es ist mir egal, ob er hier gewesen ist oder nicht. Ich fühle mich verarscht. Wir stehen hier, und der Hundesohn hockt in irgendeiner Kneipe am Tresen und läßt sich langsam vollaufen. Das ist Mist.«
Mandy ging darauf nicht ein. »Weißt du eigentlich, wer hier begraben liegt?«
»Klar. Dieser Pretorius. War ja ein harter Knochen, damals. Der hat es richtig getrieben.«
»Das denke ich auch.« Mandy sprach säuselnd weiter. »Er muß wirklich gut gewesen sein. Anders als die anderen. Ich spüre ihn. Ich… ich… spüre seine Gegenwart.«
»He, was hast du da gesagt?«
»Ich merke, daß er noch hier ist.«
»Klar, als Knochen unter der Erde.«
»Nicht ganz.«
»Der ist verwest!«
Mandy wiegte den Kopf. Ihr Gesicht sah nachdenklich aus. »Da würde ich nicht unbedingt zustimmen. Er hat irgendwie den Tod überwunden. Etwas von ihm ist noch da.«
»Klasse. Und was?«
»Spürst du es denn nicht? Merkst du nicht, daß hier etwas anderes seinen Weg gefunden hat?«
»Nein, damit habe ich nichts am Hut. Okay, ich habe den Hokuspokus ja noch mitgemacht. Aber das ist vorbei, kann ich dir sagen. Wir werden von hier verschwinden und Mike suchen. Wenn wir ihn gefunden haben, gibt es Zunder.«
»Das glaube ich nicht, Ruben.«
»Was glaubst du nicht?«
»Daß wir hier so einfach verschwinden können.«
Er wollte lachen, doch es wurde nur ein Krächzen. »Sag mal, redest du jetzt nur noch
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