1081 - Die Mutprobe
runzelige oder hornige Haut kratzte über ihr Gesicht hinweg, und sie spürte auch den Druck, der sie nach oben zog. Pretorius wollte nicht, daß sie am Boden blieb. Er zerrte sie hoch, und seine scharfe, hornige Haut hätte ihr Gesicht aufgerissen, wenn sie sich gewehrt hätte.
Das tat sie nicht.
Mandy gab dem Druck nach und half dabei mit, auf die Beine zu kommen. Der andere stand noch immer hinter ihr. Er hatte den Kopf leicht nach vorn gebückt, damit er über ihre rechte Schulter hinwegschauen konnte. Sein »Gesicht« befand sich nahe an dem der Frau, und sie spürte nicht nur den direkten Kontakt, sie nahm auch den widerlichen Geruch wahr, der davon ausging.
Es war der Ekel an sich.
Verwesung. Stinkendes Fleisch. Leicht süßlich. Abgestorben und tot. Aber trotzdem existierte dieses verfluchte Ungeheuer und war sogar in der Lage, sich zu bewegen.
Etwas Fremdes versuchte, in ihre Gedankenwelt einzudringen. Der andere wollte Kontakt mit ihr aufnehmen. So wie beide dastanden, war Mandy die Schöne und der andere das Biest. Aber er war nicht traurig oder ein Verlorener, sondern jemand, der den Tod anderer wollte, wie es auch früher gewesen war.
Die fremden Gedanken irritierten Mandy. Da ihre eigenen ebenfalls noch vorhanden waren, schaffte sie es nicht, sich auf eine der beiden Ströme zu konzentrieren. In ihre eigenen Welt hinein mischten sich Begriffe wie Opfer, wie Tod, Hölle und Teufel. Für sie war es fremd, nicht aber für Pretorius, der aus dem Grab das weiterführen wollte, das er schon immer getan hatte.
So zog er sie mit, und sie konnte sich nicht wehren. Mandy hing im Griff dieser furchtbaren Gestalt.
Sie selbst ging nicht. Ihre Füße schleiften über den Boden hinweg. Wieder stieg Panik in ihr hoch.
Am gesamten Leib begann sie zu zittern. Sie hielt den Mund offen, um zu schreien, doch sie brachte nur keuchende Laute hervor. Tief im Innern mußte sich alles verändert haben. Es gab keinen Widerstand mehr, sie hatte sich dem anderen voll und ganz ergeben.
Um sie herum wurde es dunkler, als sie einen anderen Ort erreichten. Erst jetzt gelang es Mandy, zu erkennen, wo sie sich befanden. Der Unheimliche hatte sie an seinem eigenen großen Grabstein entlanggeschleift, sich dann mit ihr zusammen gedreht, und war an der Rückseite des Grabsteins stehengeblieben.
Mandy hing noch immer in seinem Griff. Er hatte den rechten Arm jetzt von der Schulter her quer über ihren Körper gelegt, und seine Klaue drückte gegen die linke Brust. Sie zuckte unter seinem Griff, sie holte keuchend Luft. Sie wollte weg aus dieser Klammer, doch schon die geringste Bewegung sorgte dafür, daß der andere wieder härter zupackte.
Plötzlich geriet auch seine linke Hand in ihr Blickfeld. Etwas leuchtete an seinem Zeigefinger auf.
Zuerst dachte sie an eine Wunde, aus der Blut hervorquoll, aber das war es nicht. Das Leuchten selbst stammte von einem Ring, der ihr bisher nicht aufgefallen war. Der Unhold mußte ihn erst vor wenigen Sekunden über seinen Finger gestreift haben, ohne daß es ihr aufgefallen war.
Plötzlich waren wieder die Gedanken in ihrem Kopf. Dieses Fremde, mit dem sie nicht zurechtkam.
Es waren böse Gedanken, die sich zu ganzen Sätzen formierten.
»Der Ring des Hexenjägers mit dem Gift des Teufels getränkt.« Sie hörte das Lachen. Dann wieder die Stimme. »Das Gift der Hölle. Die Nadel des Todes…«
Nach dem letzten Wort drückte Pretorius Zeige- und Mittelfinger zusammen. Dadurch bewegte er einen Kontakt, der die Nadel löste, die aus der Mitte des Rings hervorschoß.
Mandy war zwar im Griff des Wiedergängers starr geworden. Als sie die Nadel sah, die hervorschoß und auch das entsprechende Geräusch hörte, da schrak sie zusammen, denn die Spitze wies genau auf ihre Kehle.
Jetzt wußte sie auch, wie sie sterben sollte. Sie stand dicht davor, und der Unhold hinter ihr brauchte nur die Nadel etwas nach vorn zucken zu lassen, und es war um sie geschehen.
Dieser Gedanke löste bei ihr die Starre, und aus dem offenen Mund wehte der jammervolle Schrei…
***
Wir gingen über den Totenacker. Mir kam es vor, als erlebten wie eine gruselige Prozession. Um uns herum war es totenstill. Keine anderen Geräusche. Die Ruhe lag wie Blei über den Gräbern und den alten Steinen, die oft schief aus der Erde ragten.
Dieser Friedhof war tatsächlich ein vergessenes Gelände, das erkannten wir auch in der Dunkelheit.
Wir hatten die Formation beibehalten. Milena Kovac und ich gingen an der Spitze.
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