1081 - Die Mutprobe
fürchterlichen Situation heraus, an die sie sich erst gewöhnen mußte, aber niemals gewöhnen würde.
Ein Seil trug er nicht mehr offen. Er konnte es unter der Kutte versteckt haben. Aber es gab andere Möglichkeiten, um einen Menschen vom Leben in den Tod zu befördern.
Tod - dachte Mandy!
Mit diesem Begriff steigerte sich ihre Angst noch. Normalerweise hätte sie sich freie Bahn brechen und zu einem Schrei werden müssen, doch auch das war bei ihr nicht möglich. Mandy Mannox war in ihrer eigenen Todesangst gefangen. Sie konnte dem Druck nichts mehr entgegensetzen und wunderte sich darüber, daß sie noch in der Lage war, zu atmen. Die Hände hatte sie auf die Oberschenkel gelegt. Selbst durch den Kleiderstoff spürte sie das Zittern ihrer Haut, und sie merkte, wie sich Kälte und Hitze in ihr abwechselten.
Er kam immer näher.
Nebelschwaden umwehten ihn nur noch in der unteren Körperhälfte. Wenn Mandy den Blick nach oben richtete, erfaßte er auch das Gesicht des anderen.
Ein Gesicht?
Mandy stöhnte auf. Es war die erste akustische Reaktion, die nach der Entdeckung überhaupt aus ihr hervorbrach. Das war kein Gesicht, das war nur mehr ein Etwas. Eine Masse, die bläulich angelaufen war, zugleich auch aufgequollen, als hätte sich die Kraft der Verwesung nicht entscheiden können, ob sie nun voll zuschlug oder nicht. Sie hatte auf halbem Weg gestoppt.
Augen? Gab es Augen?
Nein oder doch? Da schimmerte etwas in Augenhöhe. Zwei kalte und stumpfe Lichter. Sie mußten in einer wabbeligen Masse liegen, weil sie sich bei jedem Schwung des Körpers mitbewegten.
Ihr Gehör war wieder geschärft worden. Sie hörte seine Schritte. Bei jedem Aufsetzen kratzten die Füße über den Boden hinweg. Mandy war sich nicht einmal sicher, ob diese Gestalt Schuhe trug.
Vorstellen konnte sie es sich nicht.
Zwei Schritte. Dann nur noch einer.
Er war bei ihr!
Er blieb stehen!
Sie hob den Blick wieder an. Er bewegte sich nicht, stand einfach auf der Stelle wie eine Figur aus Stein. Rechts und links des Körpers hingen seine Arme herab und natürlich die Klauen, deren Finger starr waren.
So nahe hatte sie die Hände noch nie gesehen. Jetzt konnte sie die Klauen mit dem Gesicht vergleichen und entdeckte dabei einige Übereinstimmungen. Die gleiche Farbe, die gleiche Masse, wahrscheinlich sah der gesamte Körper so furchtbar aus.
Mandy wartete darauf, daß sich die Hände spreizen würden, um sie packen zu können, aber das geschah nicht. Die Gestalt setzte sich wieder in Bewegung, obwohl sie schon so dicht vor ihr stand, und Sekunden später sah sie auch den Grund.
Er ging an ihr vorbei. Durch die erste Bewegung geriet die Kutte wieder ins Schwingen, und der schwere Stoff streichelte über das Gesicht der Frau hinweg.
Zum erstenmal nahm sie auch den Geruch wahr. Er roch nach Friedhof, nach Lehm, Feuchtigkeit und alter Erde. Vielleicht auch nach Würmern und anderem Getier, das sich in dieser Tiefe versteckt und dort seinen Lebensraum gefunden hatte.
Nichts passierte in den folgenden Sekunden. Mandys Sicht war wieder frei. Sie sah ihren erhängten Freund, an dessen Körper vorbei die dünnen Schleier trieben, als wollten sie ihm noch einen allerletzten Gruß zuschicken.
Auf ihn konnte sich Mandy nicht mehr konzentrieren, denn der Unheimliche hinter ihrem Rücken griff zu.
Seine Klauen lagen plötzlich auf ihren Schultern wie zwei schwere Gewichte. Nach dieser ersten Berührung lösten sich die Klauen wieder und glitten höher, bis sie von beiden Seiten auf ihren Wangen lagen und sich dort leicht krümmten.
Mandy Mannox spürte die Spitzen der Nägel an ihrer weichen Haut. Sie piekten hinein, aber sie preßten nicht so stark dagegen, daß sie Wunden hinterließen.
Es waren keine normalen Hände. Es gab bei ihnen auch keine Haut mehr. Sie fühlten sich für Mandy an wie eine rauhe Schale, die sich gegen ihr Gesicht preßte und sich dabei nicht bewegte.
Ebenso wie Mandy, die jetzt erstarrt war und das Gefühl hatte, kaum noch zu atmen.
Es kam ihr in den Sinn, die Augen zu schließen. Sie wollte einfach nicht mehr die schaurige Szene sehen. Ruben war tot, da wußte sie, aber sie wußte auch, daß ihr möglicherweise das gleiche Schicksal bevorstand.
Nichts mehr sagen.
Nur noch beten!
Gern hätte sie in dieser Lage die Hände zum Gebet gefaltet, das brachte sie jedoch nicht fertig. Statt dessen wurde sie wieder zurück in die Realität gerissen, als sich die Klauen an ihrem Gesicht ruckartig bewegten. Die scharfe,
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